Abendmahl von Leonardo da Vinci

Betrachtung zu Leonardo da Vinci's Abendmahl

von Hans Gernert

 

11 Jahre lang hatte ich eine Kopie von Leonardo da Vincis Abendmahl als Ölgemälde vor Augen, wenn ich in Bürglein vor dem Altar stand. Johann Kleininger aus Schwabach hat diese Kopie 1843 im Auftrag Des Müllermeisters und Tabakfabrikants Johann Georg Herding von der Weihersmühle angefertigt. Manchmal dachte ich während der Liturgie im Gottesdienst, jetzt verdecke ich für die Gemeinde das Wesentliche. Nur ich darf Jesus von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Das Bild ist mir in diesen 11 Jahren sehr vertraut geworden. Aber auch Sie werden es schon öfter gesehen haben. Es lohnt sich, sich in dieses Bild zu vertiefen.

 

Leonardo da Vinci hat das Wandgemälde in den Jahren 1494 bis 1498 geschaffen für einen Speisesaal der Mönche im Kloster Santa Maria delle Grazie in Mailand.

Das Abendmahlsbild ist erhöht an der Wand, die Tischseite zum Betrachter hin ist frei. So konnten sich die Mönche, die im Refektorium speisten, als Teil der Tischgemeinschaft mit Jesus erleben. Im Gemälde öffnet sich der Raum nach hinten mit einem Blick in die Landschaft und wirkte so für die Mönche wie die Verlängerung ihres Speisesaales.

Leonardo da Vinci hat sich viel Zeit für das Bild des Abendmahls genommen, hat Modelle gesucht, Studien angefertigt, mit Farben experimentiert. Er war 42 Jahre alt, als er mit dem Wandgemälde begann, das etwa 4 mal 9 Meter misst.

Zentralperspektive

Das Werk gilt als ein Meilenstein der Renaissance, denn es ist zentralperspektivisch aufgebaut. Alle Linien treffen sich im Antlitz Jesu, der den zentralen Mittelpunkt bildet. Bei Restaurierungsarbeiten hat man das Loch eines Nagels gefunden. Mit gespannten Schnüren hat der Maler das Zentrum ermittelt und mit einem Nagel markiert. Diese Bildmitte befindet sich genau und bewusst in der Schläfe der Christusfigur. Leonardo experimentierte mit den Farben, die sich leider als nicht so beständig erwiesen. Immer wieder waren Restaurierungen notwendig. In späterer Zeit wurde noch eine Tür in die Wand eingezogen, der die Füße Jesu zum Opfer fielen.

Leonardo hat mehrere Bibelzitate verarbeitet. Die Einsetzung des Abendmahls ist die zentrale Botschaft. Jesus in der Mitte ruht ganz in sich und weist mit seinen Händen auf Brot und Wein:

Nehmet hin und esset – mein Leib für euch gebrochen.

Nehmet hin und trinket – mein Blut für euch vergossen.

Einsetzung des Abendmahls

Die Hände Jesu sind zum Betrachter hin geöffnet. Ich empfinde es so, dass seine rechte Hand gibt. Sie ist mit dem roten Gewand eingehüllt. In Liebe gibt er sich hin für uns. Die linke Hand nimmt. Sie ist mit einem blauen Überwurf gekleidet. Jesus sucht unseren Glauben. Diese Handhaltung erlebe ich beim meditativen Tanzen. Die eine Hand gibt, die andere nimmt. Jesus gibt zuerst, um dann auch von mir etwas zu erwarten. Er gibt Liebe und erwartet mein Vertrauen.

Auf Heiligenscheine hat Leonardo bewusst verzichtet. Doch über dem Kopf Jesu hat er über der Tür einen Türbogen gemalt, der nur über Jesus eine Art Heiligenschein andeutet.

  Zu den 12 Jüngern hat der Maler einen deutlichen Abstand gelassen. Sie sind alle aufgeregt, denn gerade hat Jesus gesagt: „Einer von euch wird mich verraten. Und wie wurden sehr betrübt und fingen an, jeder einzeln, ihn zu fragen: Herr, bin ich’s? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten.“ Die Hand des Judas und die Hand Jesu zielen beide auf einen Teller.

Hand von Judas und Jesus

 

Ich lade sie nun ein, mit mir gemeinsam die 12 Jünger genauer zu betrachten, die in Dreiergruppen dargestellt sind.

 

1. Dreiergruppe

Wir beginnen ganz links. Am linken Ende der Tafel steht Bartholomäus (1) und stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch. Er ist empört und fassungslos, dass es einen Verräter unter ihnen geben soll. Jakobus der Jüngere (2), in der Mitte, wirkt eher zurückgenommen, aber doch interessiert. Mit seinen Händen nimmt er Kontakt auf zu den beiden Brüdern Andreas und Petrus.

Andreas (3), der Bruder des Simon Petrus, zieht seine Schultern hoch und wehrt mit den Händen ab: „Das hat mit mir nichts zu tun. Ich würde Jesus nicht verraten.“

 

2. Dreiergruppe

In der nächsten Gruppe sind Judas, Petrus und Johannes abgebildet.

Zunächst Judas (4). Er sitzt mitten unter den Jüngern, nicht abseits auf der anderen Tischseite. Doch es ist die einzige Dreiergruppe, wo die mittlere Person sich wegbewegt und auf Distanz geht: Judas stützt sich mit dem rechten Arm auf den Tisch, in der Hand hält er den Geldbeutel. Er ist an der erregten Gestik der anderen Jünger unbeteiligt. Seine linke Hand bewegt sich auf die Hand Jesu zu, als wollte er Jesus ergreifen. Judas ist der einzige, der nicht vom Licht beschienen wird. Er bleibt im Dunkeln. Manche meinen, der weite Halsausschnitt sei ein Hinweis darauf, dass er sich später den Strick um den Hals legt. Für Judas suchte er lange nach einem Modell. Eine Anekdote ist überliefert, er hätte im Abt des Klosters ein Modell gefunden, weil diesem die Arbeiten zu lange dauerten und er deswegen den Maler beim Herzog angeschwärzt hatte.

Simon Petrus (5) ist begierig zu erfahren, wer der Verräter sein wird. Er zieht Johannes, den Lieblingsjünger zu sich. Im Johannesevangelium heißt es: „Simon Petrus winkte Johannes zu, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete“. (Joh. 13, 24)

 

(Messer, Geldbeutel und Salzfass)

Das Messer, das Petrus in der Hand hält, ist ein Ausblick auf die Gefangennahme Jesu, wo Petrus kämpfen will und einem Knecht das Ohr abtrennt. Doch Jesus ist gegen Gewalt. Auch gegen Gewalt gegen Judas. Darum weist das Messer von Judas weg. Der Geldbeutel des Judas und das Messer des Petrus sind die einzigen Gegenstände in einer Hand. Das könnte sagen: Geld und Macht liegen in Menschenhand.

Das von Judas umgestoßene Salzfass könnte bedeuten, dass er dabei ist, seiner Berufung untreu zu werden, Licht der Welt und Salz der Erde zu sein.

 

Johannes (6), der mit dem Lieblingsjünger identifiziert wird, sitzt an der rechten Seite Jesu, also ganz nah bei ihm. Die enge Verbindung wird im Original auch durch die gleiche Kleidung zum Ausdruck gebracht. Johannes ist mit sich im Reinen. Niemand wird ihn verdächtigen. Er ruht in sich, trauert und hat die Hände zum Gebet gefaltet.

 

3. Dreiergruppe

Betrachten wir die dritte Gruppe:

Thomas (7) hat den Zeigefinger hoch erhoben, mit dem er nach Ostern die Wunden Jesu berühren will. Der erhobene Zeigefinger drückt aus: „Das darf nicht sein. Das wäre schlimm! Wehe dem Verräter!“

Jakobus der Ältere (8), der im Mittelalter zum Schutzpatron der Pilger wurde, breitet die Arme aus und bildet damit eine Barriere zu Jesus,

als wollte er sowohl den Thomas als auch den Philippus neben sich zurückhalten und beruhigend eingreifen.

Philippus (9) ist gerade aufgesprungen und tief betroffen. Mit beiden Händen berührt er seine Brust und fragt: „Herr, bin ich’s?

 

4. Dreiergruppe

Wenden wir uns der letzten Gruppe der Apostel zu, die eifrig miteinander diskutieren und mit ihren Händen zu Jesus hin zeigen.

Matthäus (10) fragt Simon Zelotes am Ende des Tisches: „Kann es stimmen, was Jesus uns gerade gesagt hat?“

Auch Thaddäus (11) traut seinen Ohren nicht und fragt Simon, was es mit der Prophezeiung wohl auf sich habe. Es wird vermutet, dass sich Leonardo in der Figur des Thaddäus selbst gemalt hat. Für Matthäus könnte sein Schüler und Freund Salaj Modell gestanden haben.

Simon Zelotes (12) schließlich, der mit weißem Gewandt in der Art des Philosophen Plato erscheint, versucht das Unfassbare zu begreifen.

 

Zum Glück sitzen diese zwölf nicht alleine am Tisch.

Jesus sitzt in ihrer Mitte. Die Kassettendecke über Jesus mit ihren 6 mal 6 Feldern steht für die Schöpfung in 6 Tagen. Jesus ergänzt die Zahl 6 zur Sieben, er bringt die Erlösung. Sein Blick geht nach innen. Er schaut über die Gegenwart und die Unruhe der Jünger hinaus und gibt ihnen eine Perspektive: „Ich sage euch: Ich werde nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich von neuen trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“