Sie kennen das Stufengedicht von Rainer Maria Rilke, in dem es heißt:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Unser Leben ist voller Neuanfänge.
Zwei Menschen, die sich finden und verlieben – sie erleben den Zauber des Anfangs.
Oder wenn man ein neues Haus bezieht.
Oder wenn ein Kind geboren wird – da erlebt man den Zauber des Anfangs.
Lukas erzählt in der Apostelgeschichte 2 vom Zauber des Anfangs der ersten Gemeinde in Jerusalem:
Die die Predigt des Petrus annahmen, ließen sich taufen.
Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel.
Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.
Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. (Apostelgeschichte 2, 41a.42-47)
Lukas idealisiert hier. Er beschreibt den Anfang mit vier Stichpunkten.
Die vier Kennzeichen einer christlichen Gemeinde gelten bis heute:
1. das Festhalten an der Lehre der Apostel
2. die Gemeinschaft untereinander
3. die Feier des Abendmahls und das Teilen des Besitzes
4. das gemeinsame Gebet
Das ist das Ideal. Es atmet den Zauber des Anfangs.
Generationen von Gemeinden haben sich dieses Ideal zu Herzen genommen und sich daran orientiert, auch wenn es nie ganz erreicht wurde.
Die Wirklichkeit sah für die erste Gemeinde schon damals anders aus und heute erst recht.
Man kann zu allen vier Kennzeichen von Gemeinden auch gegenteilige Erfahrungen benennen.
Der Traditionsabbruch geht weiter, die Kirchenaustrittszahlen sind schmerzlich, andere religiöse Angebote sind verlockender, die Gemeinschaft bröckelt, die Bereitschaft sich in der Kirche zu engagieren geht zurück, die Feier des Abendmahls hat sich durch Corona verändert, der Glaube an Gott und das Beten stecken in einer Krise.
Doch Schwarzsehen und Schwarzmalen wird unserer Wirklichkeit auch nicht gerecht.
Gott fügt auch heute Menschen zur Gemeinde hinzu.
Ich will es konkret machen.
Im Mai war ich zur Silbernen Konfirmation in meine frühere Gemeinde Langensteinach eingeladen. Drei Jahrgänge, die ich konfirmiert habe, traf ich wieder. Gestandene erwachsene Frauen und Männer. Bewegende Gespräche. Auch kirchliches Engagement.
Und gestern durfte ich eine frühere Konfirmandin und ihren Mann in Langensteinach trauen. Beide Gottesdienste habe ich mit der Kollegin gefeiert, die jetzt als Religionspädagogin die Pfarrstelle Langensteinach innehat. Sie ist sehr engagiert und es war wohltuend zu erleben, wie das Gemeindeleben unter ihr weitergeht und gedeiht.
Oder Taufen in diesem Jahr. Es werden wohl keine 3000 werden, aber so viele Taufen wie in diesem Jahr hatte ich hier noch nicht.
Wenn wir offen sind und hinschauen, können wir das Wirken des Heiligen Geistes auch bei uns wahrnehmen. Trotz aller Unzulänglichkeiten und äußerer Hürden erleben wir doch auch immer wieder gute Gemeinschaft in der Kirche, bei Gottesdiensten im Freien, in Gruppen, Kreisen und Chören.
Am 7. Juli wurde der Theologe Fulbert Steffensky 90 Jahre alt.
Steffensky studierte katholische und evangelische Theologie und trat 1954 in den Benediktinerorden ein. 14 Jahre lebte er als Mönch im Kloster. Dann lernte er Dorothee Sölle kennen. Er trat aus dem Kloster aus, konvertierte 1969 zum evangelisch-lutherischen Glauben und heiratete Dorothee Sölle. Als Professor für Religionspädagogik machte er sich einen Namen. Er lebt heute in der Schweiz.
Anlässlich seines 90. Geburtstags hielt er in Luzern einen Vortrag, aus dem ich ein paar Gedanken weitergeben will.
Zum Stichwort „Gemeinschaft untereinander“ sagt Steffensky:
Wir sind Menschen, d.h. wir sind dialogische Wesen; wir sind abhängig davon, dass wir von anderen gesehen und bestätigt werden. Unser Selbstbewusstsein, und damit auch unser Glaube bildet sich nicht allein und in Einsamkeit heraus, sondern im Austausch und in Gemeinschaft mit anderen. Man kann sich selbst nur verstehen, wenn man ein Gegenüber hat; wenn man im Kontext mit anderen lebt und glaubt. Das heißt: Der Glaube kommt auf Dauer nicht ohne Kirche aus; nicht ohne eine Gruppe, in der Menschen ihre Überzeugung teilen, miteinander ein Bekenntnis haben… Ein wundervolles Spiel: Ich muss nicht nur Ich sein mit meinem kümmerlichen Glauben.
Zur Lehre der Apostel und zur biblischen Botschaft betont Steffensky immer wieder, wie es Menschen überfordert, wenn sie sich selbst erfinden müssen. Es ist entlastend und tut gut, wenn wir uns in den Gotteserfahrungen, in den Gebeten und Lieder der Generationen vor uns bergen können. Es muss nicht alles neu erfunden werden.
Der in beiden großen Konfessionen beheimatete Theologe spricht sich schon lange für ein gemeinsames Abendmahl aus. Was trennt eigentlich die christlichen Kirchen und was nicht? Die Poesie des Glaubens ist gerade erst durch Unterschiede gegeben. Die Wahrheit ist ein Gespräch. Verschiedenheit darf nicht mit einer Trennung im Glauben gleichgesetzt werden. Verschiedenheit ist ein Mittel der Wahrheitsfindung. Eine Einheit der Glaubensformulierungen garantiert nicht die Einheit im Glauben. Unterschiede der Glaubens-Formulierungen bedeuten nicht per se eine Trennung im Glauben. Gerade das Abendmahl bringt doch die verschiedenen Frömmigkeiten zusammen. Weil Christus uns alle zu sich ruft und eint.
Wir wollen alle „ eins“ sein im christlichen Glauben, aber nicht „ gleich“. „Wir sind nicht die Hersteller unserer Würdigkeit zum Abendmahl.“ Wichtig ist allein der Glaube an die Gnade Gottes. Ich bin nicht durch mich selbst gerecht. „Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Gott stellt unsere Würde für das Abendmahl her, nicht das Drumherum oder irgendeine kirchliche Tradition.“ Darum ist es an der Zeit, gemeinsam Abendmahl zu feiern.
Im Blick auf das Gebet betont Steffensky auch auf dem Hintergrund seiner Klostererfahrung, dass feste Gewohnheiten für den Glauben wichtig sind: die Achtung des Sonntags, des Kirchenjahres, die alltägliche Glaubenspraxis, Singen, Bibellesen, Beten. Sonst verpufft der Glaube. Der Glaube verblasst, wenn er immer weniger Übung findet. Das beständige Dranbleiben ist wichtig. Es muss nicht perfekt sein. Leistungsdenken ist in der Beziehung zu Gott sowieso fehl am Platz.
Zu den vier Kennzeichen von Kirche fügt Steffensky noch weitere hinzu, die er für wichtig erachtet:
Ich suche eine stolze Kirche. Die Kirche ist mit ihren Traditionen ein Schatzhaus der Erinnerung. Eine Gesellschaft kann nicht leben ohne die Quellen großer Erzählung von der Würde und vom Gelingen des Lebens; ohne die Geschichten, die von dem Gott erzählen, der die Armen liebt und das Verlorene nicht verloren gibt.
Ich suche eine demütige Kirche, die weiß: Wir sind nicht die einzigen in unserer Gesellschaft, die von Gott erzählen und ihn verehren. Unsere Häuser sind nicht die einzigen, in denen man etwas vom Charme des Betens weiß. Wir sind nicht die einzigen, die für den Frieden eintreten und auf dem Recht der Armen bestehen. Wir sind nicht die einzigen, die große Erzählungen der Rettung des Lebens weitersagen.
Ich suche eine missionarische Kirche. Mission heißt zeigen, was einem wichtig ist, worauf man setzt und was man liebt. Mission: sich zeigen und niemanden zwingen. Der Glaube braucht Öffentlichkeit, er muss aus seinem eigenen Schatten treten und Zeugnis werden. Man wird zu dem, als der man sich zeigt. Ich will in einer offenen Kirche niemanden belehren und bekehren. Aber ich will etwas von der Schönheit der eigenen Glaubenstradition zeigen.
Ich suche eine gastliche Kirche. Die Säkularisierung schreitet fort, zumindest in Europa. Die säkulare Gesellschaft braucht die Öffentlichkeit der Kirchen (nicht zuletzt bei der Verarbeitung von Katastrophen). Der zeitweilige Glaube drängt sich an den ihm fremden Ort. Menschen sind Gast im Glauben auf Zeit, und die Aufgabe der Kirche ist, den Fremden zur Verfügung zu stehen und Gastfreundschaft zu gewähren, den stummen Mündern Sprache zu leihen und dem kapellenlosen Glauben ein Haus. Auch der Glaube auf Zeit ist eine Form des Glaubens. Wer wollte ihn verachten in kargen Zeiten?
Steffensky versteht es auf seine Weise, den Zauber des Anfangs der Kirche zu spüren und zu vermitteln. Gottes Geist hat damals gewirkt. Er wirkt auch heute. Immer wieder gibt es neue Aufbrüche bei einzelnen, aber auch in vielen Gemeinden. Auch wir dürfen mit Freude zusammenkommen. Denn uns ist viel gegeben und anvertraut.
Und der Friede Gottes, der alles menschliche Verstehen übersteigt, bewahre eure Gedanken und Gefühle in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.