Die Jahreslosung kam an den vergangenen Sonntagen und auch beim Steigerwaldtag in Haag zu Gehör: „Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6, 36)
Eine weisheitliche Geschichte
Der Meister behauptete, er habe ein Buch, das alles enthielte, was man von Gott wissen könnte. Keiner hatte je das Buch gesehen. Doch dann erhielt er Besuch von einem Gelehrten. Der ließ mit seinen Bitten nicht nach und rang dem Meister das Buch ab. Er nahm es mit nach Hause und schlug es ungeduldig auf. Dabei stellte er fest: Alle Seiten waren leer. „Aber das Buch sagt ja gar nichts“, jammerte der Gelehrte. „Ich weiß“, sagte der Meister befriedigt, „aber bedenkt, wieviel es andeutet!“
Die Bibel ist kein leeres Buch. Aber sie hat etwas gemeinsam mit der weisheitlichen Geschichte: Sie wahrt das Geheimnis Gottes. Gott geht in den Sätzen der Bibel nicht auf. Er ist immer noch größer. Sein Name atmet Weite: „JHWH – Ich bin da.“ Mit diesem Namen kann man Gott nicht festlegen. Er ist der Lebendige, der uns immer wieder neu berührt, begegnet, nahekommt. „Ich bin da“. Gott ist kein Ding unter all den Dingen unseres Lebens. Er ist nichts Geschaffenes, sondern der Schöpfer. Er lässt sich nicht in Sätze einsperren und auch nicht in ein Gebäude. Er geht ein in unserer Zeit, aber er ist und bleibt dennoch der Ewige. Sein Name weitet unseren Blick und unsere Wahrnehmung: „Ich bin da.“ Sein Name lässt uns Ausschau halten nach ihm. Jetzt. Immer wieder neu. Keiner von uns weiß, wie ihm Gott nahekommt. Doch die Richtung, in die wir schauen dürfen, gibt die Jahreslosung an: „wie euer Vater barmherzig ist.“ Der „Ich bin da“ ist der Barmherzige. Schon immer! Schon vor dem Kommen Jesu. Bereits im Psalm 103 heißt es eindeutig: „Gnädig und barmherzig ist der HERR (JHWH), geduldig und von großer Güte.“ In seiner Barmherzigkeit trennt er uns von unseren Sünden und Missetaten. Er lässt sich unerreichbar fern von uns sein - „so weit weg wie der Abend vom Morgen entfernt ist“. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten.“
Es gibt eine humorvolle rabbinische Geschichte, die auf ihre Weise von der Barmherzigkeit Gottes erzählt:
Drei Männer wetteifern miteinander, wessen Rabbiner die größeren Wunder getan hat. Der eine Mann beginnt: „Kürzlich war unser Rabbi im offenen Wagen unterwegs, als plötzlich ein Platzregen kam. Unser Rabbi hat gebetet, die Hände zu Gott erhoben. Und was soll ich euch sagen, Gott hat den Regen geteilt. Links vom Wagen hat es geregnet und rechts vom Wagen hat es geregnet, und in der Mitte, wo der Rabbi gefahren ist, blieb es trocken. Ein Wunder!“
Nun erzählt der zweite Mann: „Unser Rabbi war an einem Freitag mit dem Auto unterwegs, als plötzlich der Wagen streikte. Es war kurz vor Sonnenuntergang, unmittelbar vor dem Sabbat. Der Wagen fuhr nur noch ganz langsam. Unser Rabbi hat gebetet, seine Hände zu Gott erhoben. Und was soll ich euch sagen, Gott hat den Sabbat geteilt. Rechts vom Wagen war Sabbat und links vom Wagen war Sabbat, und in der Mitte, wo der Rabbi gefahren ist, war kein Sabbat. Ein Wunder.“
Und schließlich erzählt auch der dritte Jude: „Unser Rabbi hat kürzlich einen kleinen Jungen gesehen, wie er vor einer hohen Mauer steht und ein Schinkenbrötchen isst. ‚Die Mauer soll doch gleich über dich stürzen‘, rief der Rabbi. Doch im selben Augenblick besann er sich und dachte, der kleine Junge weiß es sicher nicht besser. Unser Rabbi hat gebetet, die Hände zu Gott erhoben, dass die Mauer nicht über den Jungen stürzt. Und was soll ich euch sagen, die Mauer blieb stehen. Ein Wunder!“