„Ich gehe in die Natur, um Gott zu begegnen.“ Solche Äußerungen höre ich immer wieder einmal. Ich kann sie nachvollziehen. Ich gehe auch gerne Spazieren oder Wandern und lasse mich von einer schönen Landschaft verzaubern. Es ist durchaus ein Zugang zu Gott, ihn in seiner Schöpfung zu ahnen: beim Betrachten eines Sonnenauf- oder –untergangs oder des nächtlichen Sternenhimmels, beim Riechen an einer schönen, duftenden Blüte, im Vorbeiflug eines Schmetterlings.
Der Predigttext für heute lässt uns noch einmal anders auf unser Leben und auf Erfahrungen mit Gott schauen. Da kann uns bewusstwerden, dass Gott uns gerade in den Kämpfen unseres Lebens begegnet, in den inneren Auseinandersetzungen mit unserem Dasein, in unseren Ängsten und in unserer Vergangenheitsbewältigung.
1. Mose 32, 23-33 – Jakobs Kampf am Jabbok:
Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen (Lea und Rahel) und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. Daher essen die Israeliten nicht das Muskelstück auf dem Gelenk der Hüfte bis auf den heutigen Tag, weil er den Muskel am Gelenk der Hüfte Jakobs angerührt hatte.
Liebe Gemeinde!
Wünschen Sie sich, Gott zu begegnen? Und wenn ja, warum?
Soll Gott etwas für Sie tun? Wünschen Sie sich von ihm Gesundheit und Glück oder soll er die Karriere der Kinder sichern? Was erwarten wir von Gott?
Meister Eckhart hat dazu sehr kritische Gedanken:
„Manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und das Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s all jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ Soweit Meister Eckhart.
Dem Jakob ging es irgendwie auch vor allem um sich selbst. Er hat seinem älteren Zwillingsbruder Esau das Erstgeburtsrecht abgeluchst. Von seinem Vater Isaak erschlich er sich den besonderen Segen, der eigentlich Esau zustand. Aus Angst vor Esau haute er dann ab zur Verwandtschaft seiner Mutter Rebekka im Zweistromland. Dort diente er bei Laban über 14 Jahre, und heiratete dessen Töchter Lea und Rahel. Er gründete eine große Familie und hatte großen Erfolg in der Tierzucht. Dann verließ er seinen Schwiegervater Laban und zog er in seine Heimat zurück. Nach vielen Jahren der Trennung steht ein Zusammentreffen mit Esau bevor. Jakob hat Angst, dass sein Bruder sich an ihm und seiner Familie rächt. Darum schickt er Esau Geschenke und betet zu Gott, er möge ihn vor dem Zorn seines Bruders retten. Gott möge auch seine Familie schützen und an sein Versprechen denken, das er ihm gab: Du wirst viele Nachkommen haben.
Aber um etwas hat Jakob Gott nicht gebeten: Jakob hat nicht darum gebeten, Gott zu begegnen.
In den Ostergeschichten der Bibel ist es ähnlich. Keine der Frauen und keiner der Männer hat dafür gebetet, dass der Auferstandene ihnen begegnen möge. Sie wurden alle überrascht. Bei der Begegnung mit dem auferweckten Jesus bleibt allerdings das Geheimnis des Auferstehungslebens Jesu gewahrt. Der Auferstandene geht nicht auf in unserer irdischen Realität.
So ist es auch in dieser Geschichte von Jakob am Fluss Jabbok.
Die Geschichte wahrt das Geheimnis Gottes. Es gibt Erfahrungen, die lassen sich nicht definieren, nicht in eindeutige Worte fassen.
Das Geheimnis Gottes lässt sich nicht mit dem Verstand ergründen.
„Wenn du es verstehst, ist es nicht Gott“, so sagte schon der Kirchenvater Augustinus.
Jakob macht eine widersprüchliche Erfahrung. Es bleibt eine Spannung zwischen der Erfahrung, dass Gott zugewandt ist und dass er fremd ist. Wie bei den Emmausjüngern: Sie erleben den Auferstandenen als fremd und als nah zugleich.
Jakob erlebt einen überfallartigen Kampf auf Leben und Tod, er fühlt sich zutiefst bedroht. Und zugleich erlebt er, dass er gerettet und gesegnet wird.
Hinter der Geschichte steht die Frage: Wenn Gott gut ist, warum mache ich dann Erfahrungen, die dagegen zu sprechen scheinen?
Auch Jakob möchte verstehen und einordnen können, was ihm da gerade in diesem nächtlichen Kampf am Jabbok passiert.
Darum fragt er nach dem Namen seines Angreifers. Er will sich vergewissern, aber diese Vergewisserung wird ihm verwehrt.
Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.
Gott bewahrt sich seine Freiheit, er bewahrt sein Geheimnis.
Seinen Namen gibt er erst dem Mose am brennenden Dornbusch preis, aber auch dort in einer großen Offenheit: „Ich bin der ich bin.“
Jakob erhält keine Antwort auf seine Frage.
Aber er erhält einen neuen Namen:
Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.
Jakob hat in diesem Kampf nicht aufgegeben. Es lohnt sich, im Glauben nicht aufzugeben, sondern an Gott dran zu bleiben, und wenn es auch ein Ringen mit Gott ist. Jakob hat sich den Ängsten vor seinem Bruder gestellt. Er hat sich seiner Lebensangst gestellt und Gott festgehalten, bis er von Gott gesegnet wurde: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Ein Wort, das wir uns auch gern aneignen dürfen.
Jakob ist ein anderer geworden. Er ist nicht mehr der feige Erbschleicher von einst. Den Segen, den er sich auf listige Weise erschlichen hatte, den hat er sich hier erkämpft in einem Kampf, bei dem sein Leben auf dem Spiel stand.
Wünschen Sie sich Gott zu begegnen? Und wenn ja, wo?
Gern in der Natur. Aber die Natur ist nicht nur schön.
Und vielleicht wird uns auch bewusst: Wir können es uns nicht einfach heraussuchen, wann und wie wir Gott begegnen. Und es wird dabei nicht nur schön und harmonisch zugehen. Die Begegnung mit Gott kann etwas von einem Überfall haben. Weil ich nicht damit gerechnet habe.
Die Begegnung mit Gott kann Züge eines Ringens, eines Kämpfens annehmen. Gerade in den Kämpfen meines Lebens, in denen es aufs Ganze geht, – da begegnet mir Gott auf geheimnisvolle Weise. Ja, Begegnungen mit dem „Ich bin der ich bin“ können schmerzhaft und anstrengend sein.
Kampf und Segen sind in der Geschichte vom nächtlichen Kampf Jakobs am Jabbok ineinander verschlungen.
Es bleibt denkwürdig und merkwürdig: Kampf und Segen haben etwas miteinander zu tun. „Ich lasse ich nicht, du segnest mit denn.“
Helmut Gollwitzer schrieb:
"Die Nacht wird nicht ewig dauern. Es wird nicht finster bleiben.
Die Tage, von denen wir sagen, sie gefallen uns nicht,
werden nicht die letzten Tage sein.
Wir schauen durch sie hindurch vorwärts auf ein Licht,
zu dem wir jetzt schon gehören und das uns nicht loslassen wird."