An diesem Sonntag kommen verschiedene Themen zusammen. Es ist der Sonntag Jubilate. Er führt die österliche Freudenzeit weiter. Jubilate – Jubelt! Jauchzet Gott. Das Sonntagsevangelium ruft zum Bleiben in Christus auf, der sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Viele Menschen begehen heute auch den Muttertag und denken besonders an ihre Mütter und danken ihnen für die Liebe, mit der sie ins Leben geliebt wurden. Doch die Spannung kann nicht größer sein: Wieviele Mütter müssen um ihre Söhne trauern, die sie durch Krieg verloren haben. Heute, am 8. Mai, gedenken wir auch an das Kriegsende vor 77 Jahren. Darum werden wir einen Bibeltext hören, der kaum gepredigt wird. Er zählt zu den harten Brocken in der Bibel. Der Prophet Nahum übergießt die Hautstadt des assyrischen Reiches Ninive mit Flüchen, Verwünschungen und Gerichtsworten. Vielleicht entdecken wir in diesen harten Brocken der Bibel auch eine heilsame Seite!
Gott spricht: „Ich werfe Unrat auf dich, schände dich und mache ein Schauspiel aus dir.“ (Nah. 3,6)
Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn man solche Sätze in der Bibel liest, dann fragt man sich, wie sie in die Bibel hineingekommen sind. Wer hat solche Gewaltphantasien? Wer legt Gott solche Worte in den Mund? Sollte man solche Texte nicht besser aus der Bibel nehmen? Das ist nicht die richtige Frage. Denn: Hier könnte ein Augenzeuge sprechen. Wir alle hier kennen solche Augenzeugen: Unsere Eltern oder Großeltern, die als Kinder den 2. Weltkrieg erlebt haben. Wir kennen Überlebende des Holocausts, von denen inzwischen nur noch ganz wenig leben. Wir hören von Menschen, die zu Unrecht von der Stasi verfolgt, eingesperrt und psychischer Folter unterzogen wurden. Wir bekommen mit, was Ukrainern durch den brutalen Krieg angetan wird. – Das sind alles Menschen, die Schreckliches gesehen oder erlebt haben.
Unser biblischer Augenzeuge heißt Nahum. Er war Prophet, als im 8. vorchristlichen Jahrhundert Krieg in Israel war. Fremde Machthaber hatten das Land besetzt. Was hat unser Augenzeuge Nahum gesehen? – Gesehen hat er das selbstherrliche und grausame Wüten der Herrscher und Soldaten aus Ninive. Gottlos und brutal hatten sie die Macht über Israel an sich gerissen. Menschen wurden enteignet, versklavt, entehrt und viele wurden deportiert – nach Assyrien, weit weg also von der verlorenen Heimat. Andere wurden getötet.
Unsere Frage heute muss sein: Was hilft, mit solch schrecklichen Erfahrungen umzugehen!? Wir würden doch heute sagen: Reden hilft, Beten hilft. Und darüber hinaus gibt’s die Traumatherapie. Das alles sind hilfreiche Möglichkeiten, um mit schrecklichen Erinnerungen und belastenden Erfahrungen umgehen zu lernen. Stimmt!
Nahum kennt einen anderen Weg der Traumabewältigung.
Sein Entsetzen, seine furchtbaren inneren Bilder kleidet er in Worte.
Er findet Sprache, wo Anderen die Worte fehlen.
Und so meint er: Das, was die Israeliten erlitten haben, das werden bald auch die Feinde erleiden, allen voran die Stadt Ninive. So beschreibt es der Prophet. Was wir da lesen, sind aber nicht unbedingt Sprüche fürs Poesiealbum! Denn: Nahum stellt sich Gott als Rächer vor. Und der wird die schrecklichen Machthaber, die Israel gequält haben, grausam vernichten. –
Liebe Gemeinde! Das ist nicht unser Gottesbild. Aber: für Nahum ist dieses Bild von Gott heilsam! Warum? Heilsam ist es, die eigene Wut, die eigenen Rachegedanken einem anderen zu überlassen: nämlich Gott. Wen soll man denn auch bemühen in solch grausamen Zeiten, wo die eigene Welt zusammengebrochen ist. Und wo man selber so hilflos ist. –
Sein Grauen und seine hilflose Wut wälzt Nahum auf Gott ab; man hört ihn förmlich rufen: „Gott, mach was, mach kaputt, was uns kaputt gemacht hat! Gib uns unsere Würde zurück, unseren inneren Frieden!“ Und dann lässt Nahum seiner Fantasie freien Lauf. Gott soll die Feinde zerschmettern und der Angst vor den Tyrannen ein Ende bereiten.
Ja, das nimmt einem erst mal die Luft.
Aber: Eigentlich ist Nahum demütig. Das ist das Überraschende.
Denn nicht Nahum will wütende Rache üben --- das soll Gott erledigen. Nahum legt sich damit selber eine Grenze auf. Immerhin!!!
Er ist entsetzt und überlässt Gott das Handeln.
Aber: Das ist immer noch nicht unser Gottesbild. Haben wir doch von Jesus gelernt, Gott als barmherzigen Vater zu sehen. Haben wir doch eingeübt, immer den Frieden zu suchen und zu vermitteln. Außerdem gibt’s da diesen Vers im Epheserbrief (Eph 4,26):
Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. Man sollte also nicht zu nachtragend sein. Naja, so einfach ist das nicht immer. Es ist ein langer Prozess, nach schlimmen Erfahrungen wieder einen inneren Frieden zu finden. Es vergeht viel Zeit, bis man wieder frei ist: frei von Wut und Verletzung.
Das können wir an Nahum sehen, wie er langsam frei wird von Wut und Entsetzen. Nahum findet Worte für seinen Zorn. Er beschreibt seine Rachegedanken, und er legt sie dann Gott in den Mund.
Noch einmal: seine eigenen Rachefantasien legt der Prophet seinem Gott selbst in den Mund. Damit übergibt Nahum seine Wut Gott. Er schreit sie heraus – und – überlässt es letztlich Gott, wie der mit den Verursachern von Leid und Katastrophen umgeht. –
Wer weiß, wie oft Nahum diese Worte gedacht hat, bevor er sie aufgeschrieben hat? Aber irgendwann streift Nahum die Wut und das Entsetzen ab. Und seine Wunden können langsam heilen.
In der theologischen Literatur spricht man hier von Racheabwälzung. Oder auch von Psychohygiene, also Seelenreinigung. Viele Texte – v.a. im Alten Testament – sind voll davon. Was haben wir da alles: Rachepsalmen, Verdammungen und Flüche. Und dann die vielen Kriegsberichte. Dort befiehlt Gott sogar die Vernichtung der Feinde Israels. Das alles sind Texte, die in Zeiten größter Bedrängnis entstanden sind. Sie bewahren die Wutbilder von gedemütigten Menschen. Das kleine bedrohte Israel bzw. Autoren aus seinen Reihen machten sich da ordentlich Luft... Das hat denen gutgetan!
Gott wird hier zur Klagewand. Nahum klagt Gott sein Leid. Das kann uns ja auch manchmal helfen.
Auch wir sind wütend über Menschen. Auch uns machen Situationen hilflos. Auch wir sind verletzt durch unser Schicksal oder fühlen uns ganz klein. Überlegen Sie einmal für sich selbst: Was würde ich Gott gerne klagen? Was macht mir zu schaffen? Was bedrückt mich? Wo würde ich gerne meinem Entsetzen Luft machen, meine Wut hinausschreien? –
Wenn wir das mit der Racheabwälzung ernst nehmen, dann heißt das: Wir müssen uns unsere Wut nicht verbieten. Denn wir haben Einen, der uns hört. Wir müssen das nicht selber regeln, was uns so bedrängt: Gott nimmt das alles auf und regelt es – auf seine Weise.
Dass Gott alles aufnimmt und auf seine Weise damit umgeht, das kann und will ich glauben. So hat Jesus von Gott gesprochen, der seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte. In Gott ist alles aufgehoben. Auch unsere Wut und Klage. Er steht an unserer Seite, er leidet mit uns. Er geht mit uns durch die tiefsten Tiefen. Das haben wir mit Karfreitag und Ostern wieder erinnert. Gott leidet mit wie eine Mutter, die am Bett ihres kranken Kindes ausharrt.
Es ist gut, die Geschichte von Jona zu kennen. Sie kann als Fortsetzung von Nahum verstanden werden. (Im letzten Gemeindebrief habe ich auf ihn hingewiesen und am Ostermontag.) Jona sollte wie Nahum der Stadt Ninive den Untergang ansagen. Doch Gott ist den Bewohnern von Ninive am Ende doch gnädig, weil sie Verantwortung für ihre Schuld übernehmen. Es ist wichtig, zu wissen, dass im Alten Testament auch diese Seite Gottes gezeigt wird. Diese barmherzige Seite Gottes sieht der Prophet Jona ja erst mal gar nicht so gern. Wie einfach wäre es doch, Rache zu üben! Aber Nein!! Das ist eben nicht der Weg unseres Gottes. Er zeigt sein Erbarmen und alles ist in ihm aufgehoben. So weist er einen Weg aus allem Leid und aus aller Schuld.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Tag,
Ihr Hans Gernert