Ich lebe. Zwei Worte. Was lösen Sie heute in mir aus?
Dankbarkeit, weil es mir gut geht? Oder offene Fragen, weil es Ungeklärtes gibt?
Ich lebe.
Schüler könnten fröhlich sagen: Ich habe Ferien. Ich kann tun und lassen, was ich will. Keine Termine, kein Druck zum Lernen, keine Hausaufgaben. Ich genieße das Badewetter.
Ich lebe.
Landwirte könnten sagen: Das Wetter bereitet uns immer wieder Sorgen. Noch mehr die Bürokratie und die Politik. – Und doch geht das Leben weiter.
Ich lebe.
Wir hören von Kriegen, Anschlägen, Unglücksfällen, Katastrophen und machen uns bewusst: Bislang sind wir verschont geblieben.
Ich lebe.
Weil ich in mein Heimatdekanat zurückgekehrt bin, kommt es zu besonderen Begegnungen. So habe ich letzte Woche die Mutter eines Schulkameraden in Castell beerdigt. Ich kannte sie aus meiner Kindheit und Jugendzeit durch das gemeinsame Singen im Kirchenchor und andere Begegnungen. Mit meinem Vater sangen wir ein Lied von damals, das viele Erinnerungen weckte. Ich spürte: Für sie ist die Zeit abgelaufen, so wie für viele Pfarrer, die vor mir hier gewirkt haben und die mir beim Schreiben der Festschrift in diesen Tagen nahekamen. Ich lebe - jetzt.
Was lösen diese Worte bei mir heute aus: "Ich lebe"?
Ich lebe. - Das sagt einer, der in falschem Wahn Andersgläubige verfolgt hat. Wenn er daran denkt, steigt Scham in ihm auf. Wie konnte ich nur. War das ich selbst? Was hat mich dazu getrieben? Wie konnte ich religiöse Forderungen über alles stellen? Warum war mir die Erfüllung religiöser Pflichten so wichtig, dass ich die bestrafen ließ, die sie nicht eingehalten haben?
Sie wissen, von wem die Rede ist. Paulus. Einst ein strenger jüdischer Schriftgelehrter, der es mit der Einhaltung der jüdischen Gesetze sehr ernst nahm. Doch vor Damaskus hatte er dann ein einschneidendes Erlebnis. Eine Christusbegegnung. Die hat sein Leben auf den Kopf gestellt. Der, den er für tot erklärt hatte, lebt. Er trat ihm in den Weg und veränderte sein Leben von Grund auf. Im Rückblick fasst es Paulus so zusammen: Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Paulus macht die Erfahrung, dass nicht die Erfüllung religiöser Pflichten das Leben heil macht, sondern allein der Glaube an den lebendigen Christus. Das hat große Folgen.
Auf dem Apostelkonzil in Jerusalem ist er dabei. Dort wurde eine weise Entscheidung getroffen: Auch Menschen, die keine Juden sind, sollen zu Christus gehören können. Und sie müssen sich weder beschneiden lassen noch die jüdischen Lebensvorschriften beachten.
Es genügt, aus dem Vertrauen in Gottes bedingungslose Liebe zu leben. So hat es Jesus vorgelebt.
Auch der Apostel Petrus hat diese Linie in Jerusalem mit beschlossen. Doch Petrus wich dann wieder von dieser Linie ab und verlangte von Heidenchristen, dass sie auch die jüdischen Vorschriften befolgen sollen. Als Paulus davon erfuhr, hat er Petrus deswegen hart angegriffen und öffentlich zurechtgewiesen. So setzte Paulus die Entscheidungen beim Konzil in Jerusalem durch. Ohne diese Entscheidungen gäbe es das christliche Abendland wahrscheinlich nicht und wir würden heute nicht hier sitzen.
Dieser Konflikt zwischen Paulus und Petrus ist der geschichtliche Hintergrund für unseren Predigttext heute, Gal. 2, 16-21: Wenn da von Werken des Gesetzes, also der Thora, die Rede ist, dann sind damit die Beschneidung und die Einhaltung von jüdischen Speisevorschriften und dergleichen gemeint.
16 Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. 17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, sogar selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! 18 Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. 19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. 21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.
Liebe Gemeinde!
Helene Fischer hatte dieser Tage ihren 40. Geburtstag. Die Zeitung berichtete davon. In Sibirien kam sie zur Welt. Bald danach zog sie mit ihrer Familie nach Rheinland-Pfalz. Mit 20 Jahren trat sie erstmals in der ARD beim „Hochzeitsfest der Volksmusik“ auf. Florian Silbereisen moderierte. Später galt sie mit ihm / 10 Jahre lang / als Traumpaar der Schlagerwelt. Helene Fischer sagt: „Das Publikum sieht natürlich immer nur die perfekte Show. Aber privat bin ich jemand, der Show und Glamour nicht so braucht.“ Ich denke, wir alle haben so eine Außenseite, die gesehen wird, und eine Innenseite, die in Teilen verborgen bleibt. Wir wollen vor anderen gut dastehen. Aber da gibt es auch die andere Seite. Bei religiösen Menschen ist das nicht anders.
Sind wir das, was wir selbst aus unserem Leben machen?
Wir kennen berühmte Menschen, die Großes geleistet haben, dann aber abgestürzt sind.
Sind wir festgelegt auf die Brüche, die es in unserem Leben gibt?
Oder gibt es da noch eine andere Kraft, die mir sagt:
Du bist mehr als deine eigenen Taten.
Du bist mehr als die Niederlagen, die du erlebt hast.
Du bist nicht festgelegt darauf, wie du dich selbst beurteilst oder wie andere dich beurteilen – gleich wie dieses Urteil aussehen mag.
Ja, es gibt eine unsichtbare Kraft, die mir Leben schenkt über das hinaus, was ich selbst erlebe.
So verstehe ich den Schlüsselsatz aus dem Predigttext:
„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“
Es gibt einen Unterschied zwischen dem äußerlich sichtbaren Leben mit Erfolg oder Misserfolg auf der einen Seite
und der unsichtbaren Kraft, die mich in Wirklichkeit leben lässt.
Die mich liebt und trägt, ganz gleich, was ich äußerlich vorzuweisen habe. Plötzlich wird mein Leben zu einem verdankten Leben.
Mit Paulus kann ich dann sagen: Danke, dass ich lebe.
Danke, dass du, Christus, in mir lebst und mir Leben schenkst.
Danke, dass du mit mir verbunden bist, tief verankert in meinem Leben, tief in mir drin. Nicht, dass du meine Schuld rechtfertigst. Nein. Aber du willst sie wegnehmen wie bei Paulus, der dich in falschem Wahn für tot erklärt hat.
Du willst mich zur Liebe und zum Frieden befähigen.
Du nötigst nicht zum Befolgen von irgendwelchen Geboten. Nein, du befreist mich von menschlichen und religiösen Zwängen, von falscher Rechthaberei, damit ich mich ganz dem Leben hingeben kann.
Liebe Gemeinde! Können wir das auch so sagen wie Paulus?
Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.
Habe ich eine Beziehung zu Christus? Rede ich mit ihm?
Rechne ich mit seiner Kraft?
Lobe ich ihn mit meinem Atem und Singen?
Hoffe ich auf ihn oder sehe ich für die Zukunft nur Schwarz?
Liebe Gemeinde!
Es ist nicht leicht, das eine gegen das andere abzugrenzen. Es ist nicht leicht zu sagen: Christus lebt in mir. Und doch kann ich es erfahren.
Ich fürchte mich nach wie vor / vor diesem und jenem. Aber Christus in mir fürchtet sich nicht.
Ich zweifle schon. Aber Christus in mir ist stark.
Mein Leben weist Brüche auf. Aber Christus trägt mich.
Ich werde sterben, aber Christus in mir lebt. Er hat den Tod besiegt.
Sein Leben hilft auch mir zum Leben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
(Predigt von Hans Gernert am 11.8.2024 in Rehweiler)