„Ich komme mir vor wie ein Kerzenlicht, das zur Zeit stark durch Wind und Sturm unruhig hin und her flackert. Manchmal kann ich schlecht schlafen. Die Nachrichten beunruhigen mich. Die Folgen des Krieges bekommen wir täglich mehr zu spüren. Mein Glaube ist nicht stark. Ich weiß nicht, was noch alles kommt. Ich fühle mich verunsichert. Dunkle Gedanken steigen auf. Ich wünsche mir einen Windschutz, damit meine Lebensflamme wieder ruhiger leuchtet.“
So wie es hier ein Gemeindeglied beschreibt, so ähnlich geht es wohl vielen von uns. Solange die erschreckenden Nachrichten anhalten, werden wir aufgewühlt bleiben. Manche haben sich schon eine Art „Nachrichtenfasten“ auferlegt, um ihre Psyche nicht zu überfordern. Ich finde das wichtig, dass man sich auch selbst wahrnimmt und schützt und überlegt, was man verkraften kann und wo die eigenen Grenzen liegen.
Eine andere Stimme in diesen Tagen:
„Ich habe bei dem schönen Wetter einen Spaziergang gemacht. An einem See ist eine Hütte. Da habe ich mich eine Viertelstunde hingesetzt und den Tag in mich aufgenommen. Es ist so friedlich. Der Frühling liegt in der Luft. Die Vögel singen. Der Himmel so blau. Das hat mir gutgetan. Ich habe aufgetankt und habe mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Am nächsten Tag bin ich mit meinem Mann gleich noch einmal zu diesem erholsamen Ort gegangen.“
Erstmals habe ich in diesen Tagen auch in Briefen an meinen Onkel Hans Mellinger, dem Bruder meiner Mutter, gelesen. 1942 musste er wider Willen mit 18 zum Militär. Im Alter von 20 Jahren verstarb er in einem Lazarett an den Folgen einer Kriegsverletzung, die er sich bei Kämpfen in Litauen zugezogen hat. In den Briefen klingt immer wieder die Sorge um seine Gesundheit und um sein Leben durch. So sorgen sich derzeit viele um ihre Angehörigen in der Ukraine. Mehrmals fand ich in den Briefen von Anfang 1943 Bezüge zu Stalingrad. Wieviel Menschen damals bei den Kämpfen um Stalingrad umgekommen sind, lässt sich nicht mehr genau ermitteln. Es waren über 500.000 russische Soldaten, dazu unzählige Zivilisten. Auf deutscher Seite verloren 150.000 Soldaten ihr Leben durch Kampfhandlungen Hunger oder Kälte. Weitere gut 100.000 Deutsche überlebten die Gefangenschaft nicht.
Am 3. Januar 1943 schrieb meine Mutter aus Castell an ihren Bruder in einem Feldpostbrief: „Es ist doch jetzt eine furchtbare schwere Zeit, in der wir leben müssen. – Warum läßt unser Gott dies alles zu? – Wir schwachen Menschen begreifen es nicht.“
Am 26. Januar 1943 aus Castell:
„Die jetzigen Kämpfe im Osten sind eigentlich für uns unfaßbar. – Ach die armen, ärmsten Soldaten besonders in Stalingrad. Sollen sie denn alle ein so aussichtsloses Ende finden? – Man kann nur beten – nein flehen: Herr Gott, hilf Du ihnen. Menschenhilfe ist zu schwach und zu armselig. Ja, Gottes Wille geschehe.“
Am 29. Januar 1943 aus Castell:
„Die Nachrichten von der Ostfront sind ganz furchtbar. Ach, die armen Soldaten die noch in Stalingrad stecken. Wir können ihnen halt garnichts helfen – nur für sie flehen und bitten.“
Am 5. Februar 1943 aus Fürstenforst:
„Wir leben halt in einer sehr sehr schweren Zeit. Jede Familie hat Sorgen und Leid zu tragen, überall sieht man nur in vergrämte, freudlose Gesichter. – Aushalten müssen wir. Die Helden von Stalingrad haben doch viel grausame Qualen erduldet. Soll das noch Krieg sein? Dieses entsetzliche Morden?
Gott läßt es zu – und wir müssen uns beugen.
Hoffentlich gibt’s bald ein siegreiches Ende.“
(Am 12.Februar 1943 aus Castell:
Ach, es ist ein harter schwerer Schlag für Onkel (Ferdinand Mellinger in Buchbrunn) und Walter. Denken wir aber an Otto, so hat er sein junges Leben ausgehaucht – ausgekämpft. Unser Gott hat ihm eben dieses harte Erdenlos bestimmt. Er war ja immer und stets bereit abzuscheiden. Seine Briefe waren wirklich von einem inneren Frieden durchzogen. – Da merkst man erst recht deutlich, daß die Bitte „Dein Wille geschehe“, sehr sehr schwer ist. – In tausenden Familien ist ja derselbe Jammer und großes Herzeleid. Und das alles umfaßt das kleine Wort „Krieg“. – Wann soll denn dieses grausame Morden in Rußland ein Ende nehmen? - Bei uns und Kreßens geht’s gottlob gut. Fritz ist nun im Steigerwald Posten in Füttersee (bei Rehweiler).)
Am 21. Februar 1943:
Alle Leute sind gegenwärtig sehr, sehr gedrückt. Alle Tage könnten ja schlimme Nachrichten kommen. – Mit Gottes Hilfe müssen wir in dieser Zeit leben. Das ist der einzige starke Halt und das geheimnisvolle Band, das uns im Gebet eng verbindet.
Vielen geht es so, dass sie meinen, dass sich da etwas wiederholt. Krieg ist immer grausam. Auch dieser Krieg in der Ukraine erzeugt viel unschuldiges Leid auf allen Seiten. Er zerstört, was Menschen mühselig aufgebaut haben. Die Folgen des Krieges sind weltweit zu spüren.
Nun ist Deutschland nicht direkt in das Kriegsgeschehen verwickelt. Und doch leiden wir mit den Menschen und fragen, was wir tun können. Die Hilfsbereitschaft und die Spendenbereitschaft ist groß. Sachspenden wurden auf den Weg gebracht. Die ersten Flüchtlinge sind bei uns angekommen und finden Aufnahme. Die Schulen wollen den Flüchtlingskindern einen guten Schutzraum bieten und ihnen durch einen geregelten Schulalltag ein Stück verloren gegangene Normalität und Geborgenheit zurückgeben.
Zur Corona-Pandemie kommt nun diese Herausforderung hinzu. Und für manche ist der eigene Alltag auch schon beschwerlich genug. Da kann ich gut verstehen, dass das eigene Lebens- und Glaubenslicht ins Flackern und in Bedrängnis gerät.
Wir sind damit bei Jesus in bester Gesellschaft, wie der heutige Predigttext zeigt. Jesus war gerade noch mit seinen Jüngern zusammen und hat das Passahmahl gefeiert. Er wusste, dass er auf der Abschussliste steht und rechnete mit seinem nahen Ende. Er zieht sich zum Gebet zurück. Schon manchmal hat er sich zurückgezogen, um allein zu sein. Aber so wie hier im Garten Gethsemane kennen die ersten Hörer des Evangeliums ihn noch nicht. Traurig, verzweifelt und voller Angst. Wie kaum eine andere Geschichte der Bibel wird Jesus hier so menschlich gezeigt.
Weil es ihm so schwer ums Herz ist, bittet er diesmal seine engsten Freunde ausdrücklich darum, ihn zu begleiten und ihm beizustehen. Er sagt zu Petrus und den beiden Brüdern Jakobus und Johannes: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod, bleibt hier und wacht mit mir!“ Es sind die drei, die vormals mit ihm auf dem Berg der Verklärung waren. Sie schaffen es nicht, Jesus beizustehen. Sie schlafen. Sie verschließen ihre Augen vor seiner tiefen, inneren Not. Sie bekommen es nicht mit. Man kann sich fragen, wer denn das dreimalige Gebet Jesu gehört hat, wenn er doch allein war und selbst nichts aufgeschrieben hat. Das Gebet Jesu in Gethsemane greift unüberhörbar die Bitte aus dem Vaterunser auf: „Dein Wille geschehe“. Machen wir uns bewusst: Was die Evangelisten da erzählen und uns zumuten ist ungeheuerlich. Sie schildern Jesus in größter Angst und Verzweiflung – und er bekommt keine Antwort von Gott. Ihm erscheint kein Zeichen. Es bleibt alles, wie es ist. Die Verzweiflung Jesu hält an bis zuletzt, wo er am Kreuz schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Evangelisten schildern hier nichts anders als das Schweigen Gottes. So wie wir in diesen Tagen auf manche Fragen keine Antwort bekommen. Jesus muss das aushalten. Und die Evangelisten muten uns das auch zu. Sie muten uns zu, uns dem zu stellen. Auch wir beten um Frieden und wünschen uns von Herzen, dass sofort die Waffen ruhen. Doch die vielen Friedensgebete scheinen ohne Antwort zu bleiben. Und wenn andere neben uns ohne Antwort bleiben, leiden wir doppelt daran.
Wenn Jesus betet „Dein Wille geschehe“, dann legt er sein Geschick in Gottes Hände. Gottes Wille – das will ich für mich festhalten – ist nicht der Tod Jesu. Gottes Wille ist nicht Krieg, Morden und Zerstörung. Gottes Wille ist – das Leben! Das ist die Friedensbotschaft von Ostern und Weihnachten zusammen. Darum ist es gut, wenn wir wie Jesus unsere Anliegen und Nöte vor Gott bringen. Wenn wir ihn bitten: „Dein Wille geschehe“. Sein Wille ist Frieden, Gerechtigkeit, Versöhnung und Erlösung. Das halten wir fest, wenn wir Gott um Frieden bitten. Und wir setzen uns mit friedlichen Mitteln dafür ein.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Gottes Friede geleite Sie durch die neue Woche,
Ihr Pfarrer Hans Gernert