Die 34jährige Jüding Marina Weisbrand sagt über jüdischen Leben heute: "Unsere Existenz in Deutschland ist nicht selbstverständlich. Wir merken es daran, wie die Leute auf uns reagieren. Egal, ob jemand sagt: "Juden haben hier nichts verloren", oder: "Oh, ich liebe Juden", beides stellt uns in eine Ecke außerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Ich bin Optimist und glaube, dass jüdisches Leben in Deutschland noch mehr zur Normalität wird. Aber im Moment sehe ich, dass Antisemitismus monatlich zunimmt. Die Stimmung kippt. Das macht mir große Angst."
Wir sind am heutigen Sonntag, dem sog. Israelsonntag eingeladen zu bedenken, was uns mit dem jüdischen Volk verbindet.
Wir tun dies im Bewusstsein, dass die Kirche jahrhundertelang durch antijüdisches Predigen und Lehren Schuld auf sich geladen hat.
Wenn wir diesen Gottesdienst im Namen des Vaters feiern, dann feiern wir ihn im Namen des Vaters von Jesus, dem Juden aus Nazaret,
im Namen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Gottes, der Mose und Israel erwählt hat, des Gottes, der durch die Propheten spricht, und der in den Büchern des Ersten Testaments, das wir Altes nennen, bezeugt wird.
Liebe Gemeinde!
Unser Gehirn muss täglich viel leisten und verarbeiten und man kann staunen, welche Vielfalt es bewältigt. Um alles zu schaffen, muss es aus den vielen Eindrücken und Informationen möglichst die Wichtigsten herausfiltern und unserem Bewusstsein zuführen.
Ohne diesen Filter wären wir gar nicht lebens- und handlungsfähig.
Das Gedächtnis ist also etwas sehr Elementares für unser Leben.
Es hilft mir, mich an Namen, Gesichter, Begegnungen, Erlebnis und Gefühle zu erinnern. Ich kann diese gespeicherten Erinnerungen abrufen, mir vergegenwärtigen. Etwas Geschehenes und Vergangenes behält durch die Erinnerung und durch das Gedenken eine bleibende Bedeutung. Manchmal bekommt etwas Vergangenes durch das Gedächtnis, durch das Gedenken auch eine neue Bedeutung, weil man neue Aspekte wahrnimmt und bislang Unbewusstes ins Bewusstsein hebt.
In der Bibel spielen solche Prozesse eine wichtige Bedeutung.
Im Hören auf die Bibel, durch das Nacherzählen und Weitererzählen erinnern wir uns und unsere Kinder an Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben. Dabei werden wir Teil dieser Geschichten.
Wir deuten sie auf unser Leben und wir deuten unser Leben mit diesen Geschichten. Man kann sagen, dass wir als Christen und als Juden verbunden sind durch eine gemeinsame Erzähl- und Erinnerungskultur. Wir leben aus demselben Vermächtnis derer, die lange vor uns gelebt haben. Wir eignen uns ihre Erfahrungen an und deuten in ihrem Licht unser Leben. So geschieht es, wenn wir heute auf eine Geschichte aus dem 2. Buch Mose 19, 1-8 hören.
Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach:
„So sollst du sagen zum Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.
Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst. Mose kam und berief die Ältesten des Volks und legte ihnen alle diese Worte vor, die ihm der Herr geboten hatte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Worte des Volks dem Herrn wieder.
Liebe Gemeinde!
Dieser Text hat mehrere Ebenen. Die Zeitangabe „Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland“ ordnet den Text in das jüdische Festjahr ein. So wie bei uns an Weihnachten die Weihnachtsgeschichte oder an Ostern eine Ostergeschichte gelesen wird, wird zum Passafest die Geschichte vom Auszug aus Ägypten gelesen, und sieben Wochen später, also im dritten Monat nach dem Passafest, wird dieser Text gelesen, der den Auftakt zum Empfang der 10 Gebote auf dem Sinai bildet.
Das Volk lagert sich am Fuß des Sinai und Mose steigt auf den Berg hinauf zu Gott: „Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag… “ Der Zusatz „an diesem Tag“ lässt sich so deuten, dass der heutige Tag gemeint ist. Die Hörer werden gleichzeitig mit dem Geschehen von damals. Ihnen wird der Wille Gottes mitgeteilt, die Tora mit den 10 Geboten.
Es wird noch kurz erinnert, woher das Volk kam, nämlich von Refidim. Dort hatte das Volk gemurrt, weil es Durst hatte. Obwohl die Leute bereits erlebt hatten, dass Gott ihnen Manna und Wachteln als Nahrung zum Überleben in der Wüste gegeben hatte, kam wieder Unzufriedenheit und Unwillen gegenüber ihrem Schicksal auf.
In Refidim klopfte Mose mit seinem Stab gegen einen Felsen und es kam Wasser heraus, so dass das Volk zu Trinken hatte. Diese Station Refidim liegt hinter dem Volk. Jetzt lagern sie am Fuß des Sinai.
Nur einer, Mose, geht auf den Berg und vermittelt zwischen Gott und dem Volk. Mose soll dem Volk sagen: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.“ Hier ist nicht mehr von der beschwerlichen Wüstenwanderung mit den Erfahrungen von Hunger, Durst und Bedrohung durch Feinde die Rede. Es bleibt nur noch das Bild der Bewahrung. Aus der Sicht des Glaubens, in der Rückschau Gottes, wird die mühevolle Reise zu einem beschwingten Ritt auf den Fittichen eines Adlers. Und das Ziel dieses Fluges über alle Hindernisse hinweg ist Gott selbst: „Ich habe euch zu mir gebracht.“
Hier wird eine Glaubenserfahrung erzählt, die auch für uns Christen bedeutsam ist. Im Rückblick auf Erlebtes können wir erkennen und staunen: Gott hat uns geführt in unserem Leben. Er hat uns getragen und erhalten bis auf diesen Tag. Auch wir erleben Zeiten des Mangels und des Murrens. Wir sind mit uns selbst und mit unserem Leben nicht zufrieden. Wir begehren auf. Doch dann sehen wir unser Leben in einem größeren Zusammenhang. Eine Erzählung wie diese ruft uns zu: Halte Ausschau nach Gott in deinem Leben. Hat er dich nicht auch geführt und erhalten, wie es dir selber gefällt. „In wieviel Not, hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ Wir werden das Lied noch singen, das Joachim Neander auch nach diesem Text gedichtet hat! (Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren…).
Martin Luther sagt es so: „Niemals empfindet man die Hand Gottes gegenwärtiger über sich, als wenn man die Jahre seines Lebens noch einmal vorüberziehen sieht.“
Liebe Gemeinde! Im Gottesdienst kommen wir zusammen, bringen unsere Lebensgeschichten mit, lagern gleichsam vor dem Berg Gottes, hören von Gottes Führung und Bewahrung und verweben sie mit unserem Leben. Wir werden Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk. So werden wir gesegnet durch das Volk, das er als sein Eigentum auserwählt hat. In unserer Geschichte spricht Gott weiter zu Mose: Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Hier wird die Identität des jüdischen Volkes begründet. Gott hat mit diesem Volk einen Bund geschlossen. Gott ist aber nicht nur ein Gott für dieses kleine Volk. Im selben Satz wird festgehalten, dass die ganze Erde Gott gehört.
Er hat dieses kleine Volk auserwählt für eine große Aufgabe: Es soll alle Menschen und Völker segnen wie Priester den Segen Gottes an alle weitergeben.
Indem es Gottes Willen befolgt, soll es als heiliges Volk wahrgenommen werden.
Auf dieses Zutrauen Gottes hin antwortete das Volk „einmütig und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun.“
Gott traut dem Volk etwas zu und das Volk vertraut Gott.
Besser kann man den Glauben und das Geschehen in einem Gottesdienst nicht beschreiben – als ein Geschehen von hören, beten und antworten.
Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.
Im 1. Petrusbrief wird diese Stelle zitiert und auf die Christen bezogen. Martin Luther leitet davon den Gedanken ab, dass alle Getauften Priester sind. Es braucht keinen besonderen geweihten Stand.
Jeder Christ kann seinem Nächsten Gottes Nähe zusprechen und ihn segnen. Wenn der Gedanke der Erwählung durch Gott im Neuen Testament auf die Christen ausgeweitet wird, dann ist das keine Abgrenzung gegenüber den Juden oder den Nicht-Christen, sondern es geht um die Zugehörigkeit zu Gott. Es ist unbiblisch, würden wir die Erwählung des jüdischen Volkes und die Erwählung der Christen gegen einander oder gegen andere Religionen ausspielen. Gott erwählt uns beide dazu, ein Segen für die Welt zu sein. Das bedeutet nicht zuletzt, dass wir einander Frieden wünschen und unsere gemeinsamen Wurzeln im Gedächtnis behalten.
Mit unseren jüdischen Glaubensgeschwistern werden wir aufgefordert: Gedenkt daran, wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.
Hier wie da ist das Ziel dasselbe: Die Gemeinschaft mit Gott.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.