Der 16. Sonntag nach Trinitatis liegt etwa in der Mitte zwischen zwei Osterfesten. Manche nennen diesen Sonntag „Klein-Ostern“. Denn die Lesungen (2. Tim. 1,7-10; Joh 11 "Auferweckung des Lazarus") heute erinnern uns an Ostern, an die Auferstehung und das Leben, und wollen unsere Hoffnung stärken.
All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu – so haben wir zu Beginn gesungen.
Ist es nicht so, dass wir beim Aufwachen an jedem Morgen Grund haben, so zu singen?! „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu.“ Wir verdanken unser Leben der Güte und Barmherzigkeit Gottes. Jedes Jahr, jeden Tag, jede Stunde.
Wohl dem, der am Morgen mit einem „Danke“ aufwachen kann:
Danke für den neuen Tag.
Danke für mein Leben.
Danke für die Menschen, denen ich heute begegne.
Danke für alles, was mein Leben erhält.
Ja, wir alle sind Bewahrte. Jeder von uns hat das auf seine Weise schon erlebt, wenn nicht bewusst, so doch unbewusst. „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet?“
Wir sind Bewahrte – sonst säßen wir heute nicht hier.
Wir konnten aufstehen, uns anziehen, frühstücken und uns auf den Weg zum Gottesdienst machen. Wir konnten (ohne Masken) singen: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu.“
In den Klageliedern des Jeremia steht die ältere Fassung dieses Staunens:
„Die Güte des Herrn ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“
Liebe Gemeinde! Die Klagelieder gelten als hochstehende hebräische Dichtkunst. Sie nehmen Bezug auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im 6. Jh. v. Chr. Man kann sich das Leid und die Zerstörung in etwa so vorstellen wie in Ahrweiler und anderen Orten, wo es durch die Jahrhundertflut zu einer großen Tragödie für viele Menschen kam. Vom Stil her betrachtet bestehen die Klagelieder aus fünf Gedichten im Versmaß der jüdischen Totenklage.
Orthodoxe Juden lesen sie wöchentlich an der Klagemauer, der Westmauer des Tempels in Jerusalem. Die Klagelieder werden auch am Gedenktag an die Zerstörung des Tempels gelesen und in der Trauerzeit nach dem Tod eines Angehörigen.
Im 3. Gedicht, im Kapitel 3, geht es um die Klage und den Trost eines Leidenden. Vor dem Trost, dass die Güte des Herrn jeden Morgen neu ist, stehen ergreifende Klageschreie.
Da ist ein Mensch am Boden zerstört, er fühlt sich in die Finsternis geführt, getroffen von Leid und Elend, niedergedrückt von der Last bleierner Gedanken, er fühlt sich lebendig tot, seine Haut ist schlaff und gealtert, er fühlt sich eingesperrt, eingemauert, einsam, der Weg nach außen ist versperrt, er ist friedlos und freudlos.
Dabei sucht er die Ursache nicht bei sich selbst. Er macht auch kein namenloses Schicksal für sein Leid verantwortlich. Nein. Gott selbst sieht er als den Urheber an. Gott hat das Leid über ihn gebracht. Denn Gott hat es ihm offenbar zugemutet, so viel aushalten zu müssen. Darum hadert er mit Gott.
Liebe Gemeinde, es gibt Erfahrungen und Zeiten im Leben, wo auch wir Grund zur Klage haben. Ich brauche das nicht weiter auszuführen.
Die Pandemie mag nur ein Beispiel sein, die von vielen sehr viel abverlangt.
An den Klageliedern des Jeremia fällt nun etwas Besonderes auf.
Da jammert ein Mensch in seiner hoffnungslosen Situation nicht einfach so vor sich hin. Nein. Er betet. Er hat einen Adressaten für seine Klage. Er klagt Gott sein Leid.
Nach und nach findet er Worte für das, was ihm alles auf der Seele liegt. Er beschönigt nichts. Er übergeht nichts. Er weicht der Wirklichkeit nicht aus. Indem er das tut, verliert das Grauen die Macht über ihn. Er hat es ausgesprochen, er hat Bilder für seine Gefühle gefunden, er hat das Schreckliche neben sich gestellt, von sich gewiesen und Gott vor die Füße geknallt. Das ist in sich schon ein Kraftakt. Wer Gott sein Leid klagen kann, der hat schon einen ganz wichtigen Schritt nach vorne getan.
Die Klage verändert ihn. Das Sortieren dessen, was ihn belastet, das Aufschreiben all seiner bedrückenden Gedanken hat Platz gemacht für das Erinnern. Es kommen neue Aspekte in den Blick. Auf einmal kann er sagen: „Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen bin… Du wirst ja daran denken, denn meine Seele sagt’s mir.“
Auf einmal wird da wieder Platz für die Güte Gott, für neue Hoffnung, für neues Vertrauen, das ganz abhanden gekommen war.
Und dann folgt das Bekenntnis des Dankes: „Die Güte des Herrn ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“
Das Klagelied beschreibt also einen Weg, einen Weg der Auseinandersetzung und des Ringens mit Gott.
Liebe Gemeinde! Zur Beerdigung von Ursel Oeters kam auch das befreundete Ehepaar Reber aus Heilsbronn. Vor 10 Jahren war ihre Tochter, die Heilsbronner Kantorin Eva Reber (Mitte 40), unheilbar an Krebs erkrankt. Sie hat damals an all ihre Freunde und Bekannte einen Abschiedsbrief geschrieben, aus dem ich kurz vorlese:
„Seit gestern weiß ich, dass ich nur noch wenige Wochen zu leben habe… Bitte gebt diese Mail großzügig weiter… sprecht miteinander darüber – Reden ist in dem Falle besser als Schweigen, weil es die Erstarrung löst… Ich habe gestern angefangen, meine Beerdigung vorzubereiten und bin dankbar dafür, dass mir das noch möglich ist… Bitte nehmt euch Zeit zu trauern, aber bleibt nicht in der Trauer stehen! Gott hat noch so viele schöne Dinge mit euch vor, es wäre jammerschade, wenn ihr sie euch entgehen ließet! … Jeder Tag ist ein Geschenk, den ich aus Gottes Hand annehmen will, und nichts ist selbstverständlich.“
Diese Zeilen atmen die Melodie unseres Predigttextes. Da kann das Unbegreifliche einen Menschen nicht daran hindern, jeden Tag neu mit Gottes Güte zu rechnen.
Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Die freud- und friedlose Seele kann auf einmal wieder sprechen: Der HERR ist mein Teil. Mit dem Teil war ursprünglich das Stück Land gemeint, das einer Familie zum Leben zugeteilt war. Der HERR ist mein Teil – damit drückt der Beter seine Vertrauensbeziehung zu Gott aus: Ich lebe ganz von Gott. Er ist die Grundlage meines Lebens. Darum will ich auf ihn hoffen. Auch das Leid trennt mich nicht von Gott. Er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Liebe Gemeinde, gehen wir erfüllt von diesen Worten in diesen Sonntag. „Die Güte des Herrn ist‘s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“
Aus dem Klagelied wird in unserem Bibelabschnitt ein Loblied: Die Seele öffnet sich neu für Gottes Güte und Treue.
Entdecken wir Spuren der Güte und Treue Gottes in unserem Leben. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.