Unsere Gedanken sind heute bei Menschen, die uns im Tod vorausgegangen sind. Ich möchte unser Nachdenken und Erinnern verbinden mit dem Psalm 139. In diesem Psalm wird die enge Verbindung zwischen Gott und unserem Leben festgehalten. Gott selbst hält uns fest, hält seine Hand über uns. Seine Nähe macht nicht Angst, sondern führt zum Staunen, Danken, aber auch zur Klage und zur Bitte.
Sterben, Tod und Trauer sind sehr verschieden.
Meine Mutter durfte 98 Jahre alt werden. Sie konnte bis zuletzt zuhause sein. So hatte sie immer jemand um sich, auch beim letzten Atemzug. Wir hatten uns in den letzten Jahren bereits mehrmals verabschiedet und dann kamen die Kräfte doch wieder zurück. So waren wir alle schon länger vorbereitet und sie auch.
Andere haben in diesen schwierigen Zeiten erlebt, dass sie sich noch verabschieden wollten, es aber nicht mehr konnten. Besuche waren so gut wie nicht erlaubt. Das ist schwer zu ertragen, wenn man Nähe schenken will, wenn man jemand begleiten will und nicht darf. Die Gedanken an die Kranken und Sterbenden waren immer da: beim Aufstehen, den Tag über und beim Zubettgehen. Ob sie es gespürt haben, dass an sie gedacht und für sie gebetet wurde?
Vor vielen tausend Jahren hat ein Mensch Worte der Hoffnung gefunden:
Herr, du erforschest mich und kennest mich.
2Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
3Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
4Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,
das du, Herr, nicht alles wüsstest.
5Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.
6Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch,
ich kann sie nicht begreifen.
1. Staunen Ich höre aus diesen Worten ein tiefes Staunen heraus. Da geht ein Mensch an die Grenze des Sagbaren. Er ist sich sicher:
Keine und keiner von uns ist ganz allein. Einer ist da. Sein Name ist JHWH (HERR) – Ich bin da.
Er überwindet alle Entfernungen. Er kennt unsere Gedanken von ferne. Das tröstet. Meine Gedanken gehen nicht ins Nichts und auch die Gedanken und Gefühle von Sterbenden werden von Gott verstanden. Wo ich nicht sein kann, da ist er da.
Wohin gehen wir, wenn wir sterben? Ist dann alles aus und vorbei?
Wo sind die Menschen, mit denen wir eng verbunden waren?
Menschen, deren Namen noch im Geburtstagskalender stehen, mit denen ich aber nicht mehr feiern werde.
Menschen, von denen ich Fotos habe an der Wand oder auf einem Datenträger. Wo sind sie?
Der Psalmbeter denkt Gott so groß, dass er Lebende und Tote umfängt. Gott ist überall. Es gibt keinen Ort, wo er nicht wäre. Selbst hinter der Morgenröte und in der schwärzesten Nacht und auch im Totenreich ist er da. Welch eine starke Hoffnung!
7Wohin soll ich gehen vor deinem Geist,
und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
10so würde auch dort deine Hand mich führen
und deine Rechte mich halten.
11Spräche ich: Finsternis möge mich decken
und Nacht statt Licht um mich sein –,
12so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.
In diesen Worten nehme ich eine große Tiefe wahr. Da macht sich ein Mensch bewusst, dass Gott immer an seiner Seite ist. Wir können aus Gott nicht herausfallen, weil er uns von allen Seiten umgibt und uns in seinen Händen hält – und das auch in der finstersten Stunde, in der Stunde, wo unser Augenlicht erlischt und wir vergehen. Auch diese absolute Finsternis ist wie das Licht, weil Gott Licht und Heil ist.
2. Danken
Es ist gut, wenn wir über den Tod sprechen, wenn wir den Tod nicht verdrängen, sondern ins Leben holen. Es hilft uns bewusster und dankbarer zu leben. So scheint es auch bei dem Beter des Psalms zu sein, wenn er darüber staunt, wie Gott ihn schon von Anfang an im Blick hatte. „Du hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür,
dass ich wunderbar gemacht bin.“
Bei Trauergesprächen erlebe ich es immer wieder, wie bei der Erinnerung an den verstorbenen Menschen auch etwas Lustiges dabei ist. Der Blick wird weiter. Er geht weg vom Erschrecken über das Ende hin zu fröhlichen Stunden und lustigen Ereignissen. Der Blick auf das Schöne ebnet den Weg zur Dankbarkeit, zum Dank für das Wunder des Lebens, zum Dank für diesen wunderbaren Menschen.
Das Psalmgebet geht weiter:
Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.
Gibt es so etwas wie ein Schicksal? Ein Drehbuch, in dem alles bereits steht? Es gibt da verschiedene Varianten, sich das vorzustellen. Ich bin mir da aber nicht so sicher. Was der Betende hier ausdrückt, ist sein Vertrauen in Gott, dass seine Lebenszeit, jeder Tag, gut bei Gott aufgehoben ist. Das Leben ist mehr als der kurze Lebenslauf mit seinen Höhen und Tiefen. Hinter meinem Leben steht ein Liebeswille, eine Macht, die mich gewollt hat, die mit mir Gutes im Sinn hat. Schwierig wird es mir vorzustellen, dass Gott auch das Leid in das Drehbuch meines Lebens hineingeschrieben hat. Oder dass da ein gnadenloses Karma-Gesetz mein Schicksal bestimmt. An solchen Spekulationen will ich mich nicht beteiligen. Es genügt, wenn ich Gott dankbar bin für mein Leben, das er mir zugedacht hat.
3. Klagen
Mich wundert, dass nach dem Staunen und dem Dank auf einmal eine Klage kommt.
19 Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten! …
21Sollte ich nicht hassen, Herr, die dich hassen… ?
„Ach Gott“. So sagen wir, wenn wir erschrecken.
„Ach Gott!“ Das kann ein Seufzer sein. „Ach Gott, jetzt hab ich was vergessen!“ „Ach Gott“ – das kann aber auch Wut zum Ausdruck bringen. Wut über die Härte des Lebens. Wut über eine heimtückische Krankheit. Man kann selbst auf einen Verstorbenen wütend sein. Warum hast du mich allein gelassen? Ach Gott, warum tust du mir das an? Im Psalm ist es Wut, ja sogar Hass auf die, die Gewalttaten verüben und sich an anderen Menschen vergehen: Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten! Ich muss gestehen, dass ich schon öfter gedacht habe, dass es ein Programm geben müsste, das böswilligen Hackern ihren Computer zerstört.
Welche Wut auf wen auch immer – wir dürfen sie vor Gott herauslassen mit einem „Ach Gott!“ Das können wir von und mit den Psalmen lernen: Vor Gott müssen wir uns kein Blatt vor den Mund nehmen. Alle Gefühle dürfen ausgesprochen werden. Gott hält das alles aus. Und wenn die Wut draußen ist, dann kann Platz werden für neue Einsichten.
4. Zuletzt richtet der Betende eine Bitte an Gott:
23Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.
24Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.
Der Betende sieht sich vor eine Entscheidung gestellt. Er merkt, dass er Gott braucht. Darum fragt er sich und Gott, wie es weitergehen soll. Denn er will nicht ins Verderben laufen. Darum bittet er Gott, er soll in seinem Inneren aufräumen und ihm Klarheit schenken: Erforsche mich, prüfe mich, erkenne mich. Er hat sein Vertrauen in Gott nicht verloren. Leise tastet er nach der Hand Gottes, wenn er ihn bittet: leite mich auf ewigem Wege.
Eine gute Bitte auch für uns immer wieder: Leite mich auf ewigem Wege. Ewigkeitssonntag: Ein Tag zum Staunen über Gott, zum Danken, zur Klage und zur Bitte. Wo liegt bei Ihnen heute der Schwerpunkt? Staunen, Danken, Klagen, Bitten.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Weg durch die neue Woche und die Erfahrung, dass Gott seine Hand über Sie hält,
Ihr Pfarrer Hans Gernert