Ich will mit Ihnen über das Lied „Es kommt ein Schiff geladen“ nachdenken. Es hat eine bemerkenswerte Geschichte und mystische Tiefe.
1. Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein’ höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden, des Vaters ewigs Wort.
Ein Schiff in einem Adventslied. Das lässt aufhorchen.
Ein Schiff kommt. Das lässt noch heute Menschen neugierig werden. Bevor wir den Text genauer betrachten, will ich zwei Hinweise zur Melodie geben.
- Die Melodie enthält einen Taktwechsel. Das Lied beginnt im Dreiertakt und wechselt dann in einen Vierer-Rhythmus.
Die Zahl 3 ist in der Sprache der Mystik und Musik die Zahl Gottes, die Zahl 4 die Zahl der Erde und des Menschen, die Zahl der Welt.
Das Lied besingt, wie das Göttliche auf die Erde kommt, das Himmlische sich mit dem Irdischen verbindet, der Himmel in die Erde übergeht, das ewige Wort Gottes Fleisch wird, wie Gott sich ganz energisch und bestimmt den Menschen zuwendet.
- Und auch die Tonart wechselt: Zuerst ist das Lied in dorisch, eine alte Kirchentonart - ernst und getragen, und dann in der Mittel wechselt es in F-Dur, zur Freude. Die Stille und Besinnung führt zur Freude über Jesus. Und dann setzt die Melodie wieder zur Landung an, endet im Grundton, das, was im Himmel war und ist, lässt sich nieder im Leben.
Zum Verfasser:
Ausgegraben hat dieses alte Lied Daniel Sudermann (1550-1631) in Straßburg. Er war Schulvorsteher, als Schwärmer verschrien, weil er für Jesus schwärmte und sich nicht mit toter Rechtgläubigkeit begnügte. Die Kirchenleitung hatte deshalb mit ihm ihre Probleme. Dazu war er ein Büchernarr, der für sein Leben gern in Bibliotheken stöberte, nächtelang dort alte Schriften studierte. Dabei suchte er nicht nach Gelehrsamkeit, sondern den Weg zu Christus in den Schriften der alten Mystiker. Was ihm wichtig wurde, schrieb er sich auf in ein Heft. Besonders angetan hatte es ihm Johannes Tauler, ein Prediger, Mystiker und Mönch des 14. Jahrhunderts (1300-1361). Als Daniel Sundermann sich in die Schriften Taulers vertiefte, fand er auch einen Gesang, den er etwas überarbeitet und als Lied veröffentlichte. „Es kommt ein Schiff geladen…“ Tauler studierte in Köln am Rhein und ist wahrscheinlich auch dem Mystiker Meister Eckart begegnet. Nach seinem Studium kehrte er nach Straßburg zurück, ebenfalls am Rhein gelegen. Schließlich wirkte Tauler noch in Basel am Rhein. In seiner Basler Zeit vermutet man ein Ereignis, das Tauler zu diesem Lied veranlasst haben könnte. Es erlebte mit, wie ein Schiff den Rhein abwärts geführt wurde. Das Schiff transportierte Reliquien. Sie sollten im Kölner Dom zur Aufstellung kommen. Es sprach sich natürlich herum und so sollen Tausende und Abertausende sich an den Ufern des Rheins versammelt haben, wann immer das Schiff an den Dörfern und Städten vorüberfuhr. In frommer Ehrfurcht verneigten sie sich vor den Reliquien und beteten sie förmlich an. Tauler nahm diese Situation auf, veränderte sie und machte deutlich: Das Entscheidende sind nicht Reliquien, sondern dass Gottes Sohn in die Welt gekommen ist und in uns geboren wird. Ganz im Sinne Taulers dichtete Angelus Silesius später: Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren,
und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.
Als Mystiker war Tauler die enge Verbindung von Gott und Mensch und Mensch und Gott wesentlich. Ziel des Glaubens und Lebens ist es, mit Gott und Christus ganz eins zu werden. Wir kennen das von den Wendungen „Ich bin dein und du bist mein, dir hab ich mich ergeben.“ Oder „Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden“.
Das lateinische Wort für „Schiff“ heißt „alveus“ und meint besonders den Schiffsbauch. Es kann auch mit Rumpf, Bauch, Wanne, Mulde, Trog, Höhlung, ausgehöhlter Baum, Kahn übersetzt werden. Denselben Wortstamm hat das lateinische Wort „alvus“, und das bedeutet einfach Bauch, besonders den Mutterleib. Tauler hat also das Erlebnis mit dem Reliquien-Transport als Gleichnis für eine tiefere Schau genommen. Das Schiff, das Gottes Sohn auf die Erde bringt, ist Maria. Wir haben es bei diesem Adventslied also mit einem Marienlied zu tun.
Durch Maria wird das ewige Wort, das schon am Anfang bei Gott war, Fleisch und Blut, das ewige Wort wird Mensch. Und so vertiefen sich Tauler und Sundermann in dieses göttliche Geheimnis.
Für beide ist die Vereinigung mit Gott das Entscheidende. Dabei geht die Initiative immer von Gott ausgeht.
Er kommt wie ein voll beladenes Schiff. Die Fracht ist das Wertvollste: Gottes Sohn. Keine Reliquien!
2. Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein teure Last;
Das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast.
Das Schiff kommt nicht mit Spektakel, Böllerschüssen und Blasmusik. Nein, es „geht still im Triebe“. Es kommt langsam näher. Der Weg braucht seine Zeit. Gott gewährt sie uns. Bis Jesus auch in uns ankommt, braucht es einen langen Vorlauf. Die Ankündigung durch die Propheten, die Verkündigung des Engels an Maria, (die wir als Lesung gehört haben) die Geburt Jesu, sein Leben, Sterben und Auferstehen. Die Zeugen, die uns von ihm berichten. Die Bibel. Menschen, die uns auf ihn hinweisen. Bis Jesus bei uns ankommt und wir mit ihm eins werden braucht es Zeit. Wie das Reifen der Früchte seine Zeit braucht. Dabei ist Stille notwendig, dass wir Gott stille halten. Zum Advent gehört die Stille, nicht die Hektik.
„Das Segel ist die Liebe“. Ohne Segel fuhren damals die Schiffe nicht. Das Segel war sozusagen der Antrieb, darin lag die Kraft.
Gottes Liebe ist die Kraft, die IHN bewegte, Jesus zu uns zu senden. Und der Mast überträgt die Kraft aus dem Segel auf das ganze Schiff. „Der Heilige Geist ist der Mast“.
Ohne Gottes Geist kam das, was bei Gott ist, nicht zu Maria und kommt es auch nicht zu uns.
Ohne Gottes Liebe und ohne Gottes Geist kommt das Schiff mit seiner teuren Last nicht voran und nicht bei uns an.
3. Der Anker haft’ auf Erden, da ist das Schiff am Land.
Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt.
4. Zu Bethlehem geboren im Stall ein Kindelein
gibt sich für uns verloren; gelobet muss es sein.
Das Schiff hat festgemacht auf der Erde.
Bibelworte werden hier aufgenommen:
Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns. (Joh 1,14)
Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn. (Gal 4,4)
So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
Bringen diese Worte bei mir etwas zum Schwingen? Verbinden sie mich ganz eng mit Christus? Darf ich es neu spüren und erfahren, dass Christus längst bei mir gelandet ist?
Dass Jesus Christus zu uns gekommen ist, dafür ist er zu loben.
Die letzte Strophe unseres Liedes hieß ursprünglich:
„Und wer dies Kind will küssen auf seinen roten Mund, der empfängt große Freude von ihm zur selben Stund“. Ja, das ist Sprache der Mystik, voller Erotik. Hier meldet sich die mystische Jesus-Liebe. Daniel Sudermann hat den Text verändert, aber die emotionale Aussage belassen. „Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will,“
Wir dürfen Gott, wir dürfen Christus auch mit unseren Gefühlen lieben. Sundermann macht aus der letzten Strophe zwei Strophen und dichtet weiter:
„Und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will,
muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel,
danach mit ihm auch sterben und geistlich auferstehn,
das ewig Leben erben, wie an ihm ist geschehn.“
Oft werden diese Strophen weggelassen. Aber Weihnachten ohne Karfreitag und Ostern führt nicht zum Ziel. Und wer Jesus nachfolgt, wird diese Prozesse auch durchmachen: Ein Christ muss immer wieder menschliche Sterbenswege gehen, und wer dazu Ja sagt, erlebt göttliche Auferstehungskräfte und Siege.
Mit dem auferstandenen Christus zu leben und mit ihm eins zu werden, das schließt beides ein: das Einswerden in seinem Sterben und das Einswerden im Auferstehen.
Das hat der Apostel Paulus auch immer wieder als Ziel unseres Glaubens beschrieben. Im Leben und im Sterben gehören wir dem Herrn. Lassen wir uns beschenken von der Liebe Gottes, der mit uns zusammen sein und eins sein will.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Tag,
Ihr Pfarrer Hans Gernert