Einen hörens- oder sehenswerter Vortrag von Prof. Dr. Dr. Irmtraud Fischer zur Frage, wie die Bibel, speziell das Alte Testament, zur Sexualität des Menschen wirklich sagt, finden Sie unter diesem Link. Irmtraud Fischer (* 14.6.1957 in Bad Aussee, Österreich) eine österreichische Theologin und Professorin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens.Universität Graz. Sie ist die erste Frau in Österreich, die sich als katholisch-theologische Professorin in Österreich 1993 habilitiert hat.
Um die aktuellen Vorgänge in der katholischen Kirche auch biblisch einzuordnen, kann der genaue Blick auf die Texte weiterhelfen. Wesentliche Gedanken aus dem Vortrag von Irmtraud Fischer vom 8.11.2021 sind hier zu lesen.
Man muss sich bewusstmachen, dass wir die Bibel mit einem Vorverständnis lesen. Unser Vorverständnis ist oft durch eine jahrhundertealte Tradition geprägt. Es braucht also die Bereitschaft, die Texte der Bibel einmal genau anzuschauen, was sie wirklich sagen. Denn vieles wird auch in sie hineingelesen, was aber nicht dasteht.
Betrachten wir zunächst die beiden Schöpfungstexte am Anfang der Bibel für sich.
1. Mose 1, 27 lautet die wörtliche Übersetzung: „männlich und weiblich schuf er sie“.
Was ist der Unterschied zu der Übersetzung: „Und er schuf sie als Mann und Frau?“ Männlich und weiblich ist die rein biologische Geschlechterdifferenz, nicht die soziale Differenz. (Die soziale Differenz würde einschränken und z.B. nur den freien Mann und die freie Frau betreffen, nicht aber Knechte und Mägde...)
Es heißt danach: „Seid fruchtbar und mehret euch.“ Würden sich die lebendigen Wesen nicht vermehren, würden sie aus dem Schöpfungswerk verschwinden. Berge oder das Meer können nach damaligem Denken nicht verschwinden. Die Schöpfungswerke sind einander gegenübergestellt: Nacht und Tag, das Meer und das Trockene usw. Aber Gott hat auch die Dämmerung gemacht, das Morgenrot und das Abendrot. Wenn er das Meer und das Trockene gemacht hat, dann hat er auch das Watt und die Lagune gemacht, wo nicht ganz so klar ist, was es ist. Mit den beiden Polen wird jeweils das Äußerste angegeben. Aber alles dazwischen hat Gott selbstverständlich auch geschaffen. Mit unserem heutigen Blick müssen wir sagen: Gott hat Weibliches und Männliches geschaffen und alles dazwischen auch. Man kann keinem Menschen die Geschöpflichkeit absprechen. Als Ziel der Sexualität sieht der erste Schöpfungstext die Fruchtbarkeit, damit die Lebendigkeit erhalten bleibt.
In 1. Mose 2 wird der Mensch aus Ackererde erschaffen. Adam heißt Mensch, und da ist alles drin von Mann und Frau und alle Dinge dazwischen: Die Spezies Mensch wird geschaffen. Das „Siehe es war sehr gut“ vom ersten Text wird unterbrochen durch ein „nicht gut“: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Dann wird die Frau aus der Seite des Menschen geschaffen. Der hebräische Text spricht von der „Seite“, die lateinische Übersetzung von der „Rippe“. Bei der Seite kann man auch sagen, dass dies die eine Seite des Menschseins ist. Der Mensch wird zweigeteilt. Die Hälfte des Menschen wird zur Frau und der „Restmensch“, das verbliebene Menschenwesen, ist dann der Mann. Hier wird Sexualität aus anderen Gründen erschaffen, nämlich als Mittel gegen die Einsamkeit. Dieser Text zeigt uns, dass Sexualität vor allem im Glück des anderen liegt: nämlich „Hilfe, die ihm entspricht“. Hilfe (hebräisch „eser“) ist ausschließlich in solchen Zusammenhängen verwendet, wo Menschen einander eine Hilfe sind. Die Hilfe im Positiven ist im Normalfall nur Gott: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn. Vom Hebräischen her zeigt diese Vokabel an, dass nicht der stark ist, der Hilfe braucht, sondern der, der Hilfe ist. Man kann hier keine Unterordnung der Frau herauslesen. Dann heißt es, dass die beiden ein Fleisch werden. Von Nachkommenschaft wird in 1. Mose 2 überhaupt nichts gesagt. Das kommt erst außerhalb des Paradieses, wo Adam seine Frau erkennt und Kain und Abel geboren werden. In der idealen Schöpfung ist Sexualität ein Mittel der Kommunikation, der Hilfe füreinander und ein Mittel gegen die Einsamkeit. Also das gemeinsame Leben. Das trifft unsere heutige Sichtweise sehr wohl. Sexualität gehört zum Wesen des Menschen. Beide Texte haben ein egalitäres Geschlechterkonzept, d.h. Mann und Frau sind gleichwertig.
Die Bibel kennt darüber hinaus die lustvolle Sexualität. In Sprüche 5 wird der Sohn belehrt nach dem typischen Klischee: Die Frauen verführen, nicht die Männer! Und er soll sich nicht mit einer verheirateten Frau einlassen. Aber in 5, 15-19 wird der Genuss der Sexualität mit der eigenen Frau betont. Eine ähnliche Sprache findet sich im Hohelied, das ausschließlich Liebeslieder enthält. Diese Texte sind nicht anders zu lesen als erfüllte und gelebte Sexualität. Alle Sinne sind dabei. Tauben sind metaphorisch die Boten der Liebesgöttin. Auch Gebäude werden zu metaphorischen Bildgebern. Es sind mehr Texte, wo die Frau den Mann beschreibt als umgekehrt. Das zeigt: Frauen konnten wohl auch Poesie schreiben und dichten. Die nackten Körper werden in der begehrenswerten Schönheit beschrieben. Heute sind viele mit ihrem Körper nicht zufrieden. Im Hohelied, wo Menschen sich lieben und begehren, ist alles begehrenswert. Das ist eine andere Einstellung zum Körper als heute, wo alles optimiert werden soll. Im Hohelied ist der Mensch, so wie er ist, schön. Es werden alle Körperteile beschrieben, aber nirgends kommt der Mutterschoß vor. Es geht hier nicht um Ehe und Reproduktion, sondern um die Liebe zweier junger Menschen, die sich treffen und hoffen, zusammenzukommen. Sie sind aber noch nicht verheiratet. Sie treffen sich in den Weinbergen, in freier Natur. Sie haben noch kein gemeinsames Haus. Das Hohelied kehrt die menschengemachte, nicht gottgewollte Geschlechterordnung der gefallenen Schöpfung von 1. Mose 3,16 („Nach deinem Mann ist dein Begehren und er aber wird über dich herrschen“) um. In Hohelied 7,11 antwortet der Mann auf das Begehren der Frau nicht mit Dominanz; der Mann herrscht nicht über die Frau, sondern er begehrt sie: „Meinem Freund gehöre ich und nach mir steht sein Verlangen.“
Nicht nur die schönen Seiten der Sexualität werden in der Bibel thematisiert, sondern auch Sexualität und Gewalt. Man schaut hin und vertuscht nicht. Aber es ist nicht die nötige Distanz zu dieser sexuellen Gewalt da. In 2. Sam. 13 wird die Königstochter Tamar von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt. Tamar macht die Vergewaltigung öffentlich. Menschen, denen ähnliches widerfahren ist, sind dankbar, dass dieser Text in der Bibel steht. Das Verbrechen wird nicht vertuscht, der Täter wird nicht geschützt. Die Geschichte stellt zudem eine ungeheure Sozialkritik am Königshaus dar. Sie weiß auch davon, dass sexuelle Gewalt am häufigsten in Familien geschieht.
Die Erzählung von einer verhinderten (1. Mose 19) und einer geschehenen (Richter 19) Massenvergewaltigung sind grauenvolle Texte, die wir kritisch lesen müssen, wo wir heute so viel von Missbrauch erfahren.
Beim Thema Homosexualität muss man sich bewusstmachen, dass die Bibel in einer Zeit geschrieben wurde, wo es keine gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gab. Dazu kann sie darum auch nichts sagen. Denn Kinder wurden kurz nach der Geschlechtsreife verheiratet. Ein Coming-out gab es erst dann, wenn sie schon längst Kinder hatten.
Wer die Geschichten von David und Jonathan unvoreingenommen liest, kann folgendes feststellen: Beide Kinder Sauls, Jonathan und Michal, lieben David, aber David liebt Michal nicht. Er heiratet sie zwar als eine von mehreren Frauen, aber er hat mit ihr kein Kind. David liebt Jonathan (1. Sam. 18, 1-4). Von seinen Frauen wird nicht gesagt, dass David die Frauen liebte. Liebe auf den ersten Blick verbindet David mit Jonathan. Die Vitalität (Nefesch) des David verbindet sich mit der Vitalität des Jonathan. Man kann davon ausgehen, dass Saul um die Homosexualität seines Sohnes Jonathan weiß. In 1. Sam. 20, 30 beschimpft er ihn als „Du Hurensohn…“. Damit wertet Saul auch seine Frau ab. Der Text kann so gelesen werden, dass Saul weiß, dass die Beziehung zu David die Primärbeziehung des Jonathan ist. Die Bibel ist queerer als die christliche Tradition und die Bibel hat eindeutig mehr zu sagen als das, was uns als Tradition vermittelt wurde.