Liebe Festgemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
von Herzen gratuliere ich euch zum 100jährigen Jubiläum eurer Kirche, das mit einer ganzen Reihe von Gottesdiensten und Veranstaltungen in diesem Jahr gefeiert werden soll.
Ich freue mich mit euch, heute der (fast) 100jährigen Dame meine Aufwartung machen zu dürfen.
So danke ich Pfarrer Gernert für die herzliche Einladung, diesen Gottesdienst zum Auftakt der Jubiläums-Feierlichkeiten mit euch feiern zu dürfen. Wie schön, dass es diese Kirche gibt und dass jede und jeder, der zu ihr kommt wissen darf: Er oder sie kommt zum Guten Hirten. Daran erinnert diese Kirche doch: Dass wir in Christus einen guten Hirten haben, dessen Stimme wir hören und dem wir folgen sollen. Sie erinnert uns daran, dass wir einen Gott haben, der bei uns sein will, der zu uns steht und mit uns geht, durch gute und durch böse Tage und Zeiten, der ins Herz schaut, der unser Denken, Reden und Handeln hinterfragt, und uns dennoch segnet und unserem Leben einen Sinn gibt. Und deshalb denke ich, dass ihr, liebe Haagerinnen und Haager eure Kirche liebhabt. Und wenn ich heute fragen würde, ob ihr auch Gott liebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und mit all eurer Kraft, dann würde bestimmt ein kräftiges Ja ertönen.
Und es wäre überhaupt nicht falsch, heute Gott in den höchsten Tönen zu loben, weil er die Herzen der Haagerinnen und Haager damals berührt hat und sie ihm dieses Haus gebaut haben, wie es in der Inschrift heißt: "Heiligtum Gottes. Auf Befehl des himmlischen Königs erbaut im Jahre 1923", wozu es im Laufe des Jahres und der Feierlichkeiten noch genügend Möglichkeiten geben wird, spätestens im Kirchweihgottesdienst im November.
So habe mich heute für ein Predigtwort entschieden, das für den heutigen Sonntag Estomihi vorgesehen ist, auch wenn es erst nächstes Jahr dran wäre, ein Wort, das unter die Haut geht. Ich lese beim Propheten Amos im 5. Kap..
Amos 5,21-24
So spricht der Herr: 21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Da muss mal erstmal schlucken. Und das musste ich auch. Doch dann habe ich mich mit diesem Wort auseinandergesetzt und angefreundet, spricht es doch dem großen und liebenden Gott aus dem Herzen. Und eine sehr pointierte Auslegung dieses Predigtwortes habe ich in einem Gedicht des schwarzen Dichters James Matthews gefunden.
Christen - so nennen sie sich selbst.
Am Sonntag würdevoll in Schwarz und Grau
gekleidet sitzen sie auf ihrer Kirchenbank,
die Blicke himmelwärts gerichtet,
Gott preisend für den Auftrag, den er ihnen gab:
Regierende des Landes, Auserwählte...
Christen - fromm und im Recht - da sitzen sie und stecken ab.
Sie teilen Gottes Strände, Gottes Land
und achten sorgsam, dass das Beste ihnen zufällt.
Das wenige, das bleibt, wird aufgeteilt unter die vielen,
die schweigen müssen, denn sie sind gezwungen,
ihr hoffnungsloses Schicksal hinzunehmen.
Christen - unbekümmert über jene, die verhungern,
denen die Ernte - wie sie selbst - auf dürrem Acker stirbt,
und über andere, die man von der Erde, die sie liebten, trieb.
Christen - wie würden sie wohl Gottes Sohn begrüßen? …
Würde man ihn bannen seiner Botschaft wegen,
dass Liebe unabhängig von der Farbe einer Haut
und dass die Bruderschaft der Menschen allumfassend ist?
Christen - die Priester deportieren, weil sie Gottes Werk betreiben,
werden nicht zögern, ein Gesetz zu proklamieren,
das Gottes Sohn zum Agitator macht.
Ein überaus hartes und zugleich ansprechendes, kritisch und zugleich ermunterndes Predigtwort haben wir vorhin gehört. Da wird der Gottesdienst einer harten Kritik unterzogen samt all den Feiertage und Versammlungen, derer es auch bei uns einige gibt.
Soll das nun heißen: Keine Gottesdienste mehr? Wenn Ja, dann müssten wir jetzt aufstehen und gehen. Aber gerade das ist nicht gemeint. Vielmehr werden die Menschen kritisiert deren sonntägliches Gehabe und alltägliches Getue in krassem Widerspruch zueinander stehen. Der Gottesdienst, so verstehe ich Amos, muss im Alltag seine Fortsetzung finden. Es kann und darf nicht sein, dass der Gottesdienst dazu missbraucht wird, sich Vergebung zusprechen zu lassen, oder sich Vergebung durch Opfer zu erkaufen, um danach genau so zu leben wie immer.
Dagegen, liebe Gemeinde, wendet sich der Prophet: Erhebende, feierliche Gottesdienste und Feierlichkeiten im Namen Gottes einerseits und schuldhaftes Handeln, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Gehässigkeit, Lieblosigkeit andererseits.
Und auch wir werden heute gefragt: Wie verhält sich dein Glaube zu deinem Tun? Was bedeutet es für dich, dass Gott dich erwählt hat und zu dir steht und wie wirkt sich das auf dein Reden, Denken und Handeln aus?
Amos geißelt nicht die Versammlungen an sich, nicht die Feiertage an sich, sondern das Verhalten von Menschen, die vergessen, dass sie nicht alleine auf dieser Welt sind, die kein Auge, keine Hand und kein Herz für den Nächsten haben, für den Armen, den Bedrückten, den Bekümmerten, den Leidenden, den Benachteiligten. Er geißelt das Verhalten von Menschen, die nur sich selber und ihr eigenes Wohlergehen sehen und die alles dafür tun, damit es so bleibt, wie es ist, und dafür über Leichen gehen.
Diese Menschen haben - trotz vieler Gottesdienste, Opfer und Versammlungen nicht verstanden, dass das Leben mehr bedeutet als: „Ich lebe gut“, und dass Gottes Wille mehr ist als: „Mir geht es doch gut.“
„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“, sagt hingegen der Prophet. Und das, ihr Lieben, ist Sinn und Zweck allen gottesdienstlichen Handelns damals und auch heute. Und das zu hören, es sich sagen zu lassen und zu verstehen, das ist Sinn und Zweck jeder Kirche an jedem Ort, auch nach 100 Jahren.
Es genügt nicht, der Gegenwart Gottes gewiss zu sein, es reicht nicht, seinen Tauf-, Konfirmations- und Trauspruch zu kennen, es ist nicht damit getan, Bibelworte und Gesangbuchlieder zu kennen und sie in Gesprächen einzusetzen. Das alles ist zwar gut. Aber zu einem Leben, wie Gott es von uns erwartet, gehört unbedingt - wenn nicht sogar in erster Reihe - auch das andere: Den Nächsten in seiner Not, in seinem Kummer zu sehen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Den Nächsten vor meiner Tür ebenso, wie den Nächsten in der Ukraine, in der Türkei, in Syrien, im Yemen oder in Südsudan, Äthiopien oder sonstwo.
Nein, nicht der Gottesdienst ist das Problem, sondern die Menschen, die den Gottesdienst dazu missbrauchen, sich in ihrem Sein zu bestätigen, sich zu vergewissern, dass sie im Recht sind, die zwar noch ab und zu danken, aber nicht mehr fürbitten, die sich sicher fühlen, und sich in ihrer Sicherheit durch nichts erschüttern lassen.
So nicht! sagt der Prophet und schleudert uns das wie ein Geschoss an den Kopf. Ein fettes, lautes Nein!!
Es steht aber nicht allein da. Dies Nein wird gefolgt und begleitet von einem ebenso fetten und lauten JA. Ja zu Recht und zur Gerechtigkeit. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Und das, meint Amos, das ist der richtige Gottesdienst. Das ist Gottes Wille. Und seinen Willen sollen wir erfüllen, wie wir ja auch beten: Dein Wille geschehe!
Etwas anderes will Amos gar nicht. Deshalb richtet sich seine Kritik gegen mich, wenn ich den Gottesdienst mit dem Verlassen der Kirche abgeschlossen habe.
So wünsche ich mir, dass wir alle mehr und tiefer nach dem Willen Gottes fragen und unseren Nächsten im Blick und im Herzen haben. Ich wünsche mir, dass wir die Menschen nicht vergessen, die um ihre Existenz bangen, denen nicht nach Feiern zumute ist, die ums Überleben kämpfen und die nicht wissen, wie es morgen bei ihnen sein wird.
Um hier die Menschen daran zu erinnern, wurde auch diese Kirche vor 100 Jahren gebaut. Das ist nicht der einzige Grund, aber einer der wichtigsten allemal.
So möge Gott alle in diesem Haus ein- und ausgehen segnen und ihre Herzen berühren, damit das Recht wie Wasser ströme und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
(Haag, 19.2.2023)