Am Johannistag, 24. Juni, kommt Bruder Dieter Dahmen aus Triefenstein zu uns. 1964 ist er in die evangelische Bruderschaft der Christusträger eingetreten. Nach bald 60 Jahren stellt sich die Frage, warum er Bruder bei den Christusträger geworden ist, nicht mehr so häufig. Er meint, dass sie sich durch das gefüllte Leben erledigt hat. Und doch ist ihm die Haltung der Nachfolge Jesu im Alltag wichtig. Dabei geht er geduldiger mich sich selbst um.
Er sagt: „Das Du Gottes zu mir und meine manchmal so zerbrechlichen Du-Worte zu ihm, sind mir die liebsten Momente des Tages. In diesem Du haben auch die offenen Fragen Platz und stören das Vertrauen nicht. Den großen Liebenden kann niemand von uns irritieren. Inzwischen habe ich dankbar begriffen: Nicht ich habe den Weg der Nachfolge bewahrt, sondern er war es für mich, durch geduldiges Erinnern und wunderbare Fügungen, durch sein Heben und Tragen. Gelobt sei der Gute Hirte.“ Man spürt diesen Worten von Bruder Dieter ab, wie er sich von Gott immer wieder neu ansprechen und bewegen lässt, wie er sich in der Brüchigkeit seines Lebens geführt und getragen weiß.
Im Evangelium Joh. 4 geht es um die wahre Anbetung Gottes. Was hier mit Anbetung umschrieben wird, mit Verehrung Gottes, bringe ich mit dem Wort Spiritualität in Verbindung. „Anbetung im Geist und in der Wahrheit.“ Im Wort Spiritualität steckt das lat. Worte spiritus, Geist. Halten wir zuerst fest: In der Beziehung zu Gott geht es in erster Linie nicht darum, dass wir etwas machen, sondern dass wir uns verändern lassen durch Gott, durch seinen Geist. „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
In der Übersetzung der Basisbibel ist es etwas klarer ausgedrückt:
Jesus sagt zur samaritanischen Frau: „Aber es kommt die Stunde, ja, sie ist schon da! Dann werden die Menschen, die Gott wirklich verehren, den Vater anbeten. Dabei werden sie von Gottes Geist und von Gottes Wahrheit erfüllt sein. Denn der Vater sucht Menschen, die ihn so anbeten. Gott selbst ist Geist – und wer ihn anbetet, muss vom Geist und von der Wahrheit erfüllt sein."
Hier kommt deutlich zum Ausdruck, dass erst der Heilige Geist in uns wirken muss, damit wir Gott recht verehren und Vater nennen. Die Initiative geht von Gott aus. Unsere Hinwendung zu Gott ist die Folge seines Handelns an uns. So wie Gott am ersten Pfingstfest den Aposteln seinen Geist geschenkt hat und sie dann mutig ihren Glauben in aller Öffentlichkeit bekannten. Unsere Anbetung, unser Vertrauen zu ihm, das in geistlichen Übungen, im Bibellesen, im Beten, im Singen und vielen anderen Ritualen zum Ausdruck kommt, all das ist eine Antwort auf Gottes Initiative. Gott handelt an uns zu unserem Besten, bevor wir uns ihm zuwenden. Wir hören von ihm, er begegnet uns, und erst dann wenden wir uns ihm zu.
Bruder Dieter nennt zurecht das Du Gottes an erster Stelle und dann erst sein von Gott angesprochenes, zerbrechliches Du zu Gott.
Für Juden war bis zur Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n. Chr. Jerusalem der einzige Ort, in dem man Gott in einem Tempel verehren durfte. Andere Tempel gab es nicht. Es gab Synagogen, Versammlungsräume, in denen Gottesdienste gefeiert wurden. Aber kultische Opfer gab es nur im Tempel. Die Samariter waren nach der Eroberung des Nordreichs Israel durch die Assyrer vom Südreich Juda abgeschnitten und entwickelten sich anders weiter. Als Ersatz für den Tempel in Jerusalem bauten sie auf dem Berg Garizim bei Sichem, heute Nablus, einen Tempel, der dann aber durch den Hasmonäerkönig Johannes Hyrkanos I. Ende des 2. Jh. v. Chr. zerstört wurde. Beim Gespräch Jesu mit der Samaritanerin gab es das Heiligtum selbst schon lange nicht mehr. Doch der Berg Garizim war den Samaritanern damals nach wie vor heilig und er gilt noch heute für die knapp 1000 lebenden Samaritaner als Ort der Anbetung Jahwes.
Jesus relativiert beide Orte, den Berg Garizim und den Tempel in Jerusalem. Die wahre Anbetung Gottes hängt nicht an besonderen Orten. Gebetet werden kann überall – in dem weltweit gegenwärtigen Geist Gottes. Man darf diese Bibelstelle nicht so missverstehen, als wäre Jesus gegen jede äußere Gestalt von Frömmigkeit und geistlichem Leben. Zu einem gelebten Glauben gehören geistliche Übungen und Rituale dazu. Geistliches Leben spielt sich eben nicht nur im Kopf ab. Geistliches Leben braucht Orte und Zeiten, die für Gott freigehalten werden, die aber nicht zur Bildung einer Sonderwelt führen. Vielmehr soll der Glaube mitten im Alltag gelebt und bewährt werden. Darauf zielt für mich die Antwort Jesu ab, dass die wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit geschieht – immer da, wo ich gerade bin. Anbetung geschieht nicht allein durch Gebete, sondern auch durch mein Verhalten 24 / 7 – rund um die Uhr. Durch Jesus ist die alte Spannung und Spaltung zwischen Juden und Samaritanern überwunden. Jesus gibt nicht einer Seite allein Recht, sondern er weist in die Zukunft, in der die alten Unterschiede keine Rolle mehr spielen. Diese Zukunft ist in ihm schon angebrochen. Das Heil, die Rettung, kommt von den Juden. Ja, er selbst ist es, der Jude Jesus von Nazareth, der Messias, der Sohn Gottes, mit dem die neue Zeit schon da ist. Diese Wahrheit kann erkennen, wer vom Heiligen Geist erfüllt ist. Erfüllt vom Geist kann er oder sie Gott, den himmlischen Vater ehren und wahrhaftig anbeten.
Nun kann es passieren, dass Menschen ihre Übung, ihr Ritual, das sie gefunden haben, absolut setzen. Das geschieht nicht selten. Spiritualität kann nicht nur verzaubern. Spiritualität kann auch verhexen, verblenden oder in unnötige Grübeleien und Ängste führen. Dann wird ein Pferdefuß draus. Wenn man sich nämlich einbildet: Wenn ich morgens die Losung nicht lese, wenn ich ohne Gebet in den Tag starte, dann wird der Tag misslingen. Da wird die geistliche Übung, die an sich gut und richtig ist und dem Leben Form und Orientierung gibt, zu einer eigenen Leistung gemacht. Und von dieser Leistung, so meint man, hängt das eigene Ergehen, Gelingen oder Misslingen ab.
Dabei ist es ja gerade andersherum. Gott schenkt uns Möglichkeiten, mit ihm in Kontakt zu kommen. Und jede Möglichkeit hat ihr Recht, ihre Schönheit, ihre Würde. Man kann nicht die Bibellese gegen den Rosenkranz ausspielen oder die Ikonenverehrung gegen einen Wortgottesdienst. Alles, was mich in die Haltung der Anbetung führt, hat sein Recht. Wer hier seinen eigenen Weg verabsolutiert und alles andere verurteilt und verwirft, der macht Gott klein. Der setzt Gott mit seinem eigenen Weg gleich. Der nimmt sich selbst zu wichtig und verliert den lebendigen Gott aus den Augen. Denn Gott ist Geist. Und der Geist Gottes weht bekanntlich wann und wo er will. Auf den Geist Gottes kommt es an. Und der Geist Gottes ist nicht ein Geist der Furcht, sondern ein Geist der Liebe, der Kraft und der Besonnenheit.
Ich kehre zu Bruder Dieter zurück. Er hat in den Jahrzehnten seines geistlichen Lebens gelernt, dass es viel wichtiger ist, auf die Stimme Gottes zu hören als selbst viele Worte zu machen. Er sagt: „Das Du Gottes zu mir und meine manchmal so zerbrechlichen Du-Worte zu ihm, sind mir die liebsten Momente des Tages. In diesem Du haben auch die offenen Fragen Platz und stören das Vertrauen nicht. Niemand von uns kann den großen Liebenden irritieren." Ich füge hinzu: Wenn ich mein Morgengebet einmal nicht gesprochen habe und das fällt mir tagsüber auf, dann darf ich mich dennoch in der Liebe Christi geborgen wissen. Bruder Dieter weiter: „Inzwischen habe ich dankbar begriffen: Nicht ich habe den Weg der Nachfolge bewahrt, sondern er war es für mich, durch geduldiges Erinnern und wunderbare Fügungen, durch sein Heben und Tragen. Gelobt sei der Gute Hirte.“
Liebe Gemeinde, lassen wir uns durch den Heiligen Geist immer wieder hineinziehen in die Anbetung Gottes. Machen wir daraus keine eigene Leistung. Freuen wir uns in dem lebendigen Gott. Gehen wir vertrauensvoll unsere Wege und packen an, was dran ist in der Gewissheit: In allem sind wir gehalten und getragen von der Güte des himmlischen Vaters.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Pfingstfest,
Ihr Pfarrer Hans Gernert