Predigt zum Kirchenjubiläum am 8.9.2024 in Rehweiler

Regionalbischöfin Gisela Bornowski
Bildrechte Regionalbischöfin Gisela Bornowski

Liebe Gemeinde, erst einmal herzlichen Glückwunsch zu diesem großen Jubiläum "250 Jahre Herrnhuter Saalkirche Rehweiler. Eine besondere Kirche feiert einen besonderen Geburtstag. Was mich besonders an der Entstehungsgeschichte Ihrer Kirche berührt hat: Vor der Erbauung der Saalkirche in Rehweiler stand eine Liebesgeschichte. Der 20-jährige, aus Sachsen stammende Ludwig Graf von Zinzendorf besuchte Castell wegen seiner dort lebenden Tante, der Gräfin Dorothea Renata zu Castell-Remlingen. Während des mehrwöchigen Aufenthalts um den Jahreswechsel 1720/21 warf der junge Zinzendorf ein Auge auf seine hübsche Cousine Sophie Theodora. Er verliebte sich und wollte seine Cousine heiraten. Diese blieb höflich zurückhaltend, was Zinzendorf nicht zu deuten vermochte. Eine Heirat zwischen Cousin und Cousine war in Adelskreisen jener Zeit möglich, aber nicht optimal. Zinzendorf wäre freilich nicht der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine geworden, wenn er nicht gewusst hätte, andere von seinen Ideen zu überzeugen. So konnte er die Bedenken von Sophies Eltern (In beiden Fällen jeweils eigentlich Mutter und Vormund; Vater jeweils schon tot) zerstreuen, brauchte aber noch die Zustimmung seiner eigenen Eltern (In beiden Fällen jeweils eigentlich Mutter und Vormund; Vater jeweils schon tot) und musste dafür noch einmal heimfahren. Mit dem elterlichen Segen im Gepäck machte er sich im Februar 1721 mit seiner Kutsche wieder auf den Weg nach Castell, blieb aber im sächsisch-fränkischen Grenzgebiet mit einer Wagenpanne liegen. Aus der Patsche half ihm sein in der Nähe wohnender gleichaltriger Freund, Heinrich Graf Reuß zu Ebersdorf. Nun stellte sich heraus, dass Heinrich die gleiche Sophie Theodora als Braut für sich vorgesehen hatte. Und nun wurde aus der Liebesgeschichte eine Glaubensgeschichte.
Die beiden Freunde beschlossen, ihre Sorge um die richtige Frau ganz dem Heiland Jesus Christus anzuvertrauen. Beide waren sich einig, dass sie zuerst nach dem Reich Gottes trachten und darauf vertrauen wollten, dass Gott sie mit allem nötigen versorgen würde, auch mit einer guten Ehefrau. Zinzendorf und Heinrich beschlossen, beide nach Castell zu reisen und Sophie Theodora einfach selbst entscheiden zu lassen. Wen sie auch wählte, die Freunde wollten das als Willen Gottes akzeptieren. Die mehrtägige Kutschfahrt nach Castell war von dieser ungeklärten Situation geprägt. Beide saßen nebeneinander im Wagen und mussten lernen, sich nicht zu sehr wegen der bald zu erwartenden Entscheidung Sophies Sorgen zu machen.

Als Bibelleser kannte Zinzendorf den Predigttext von heute vom Sich-Nicht-Sorgen aus der Bergpredigt. Zu dieser Bibelstelle sagte er einmal, ich zitiere:

„Man soll sich nicht den heutigen Tag um des morgigen willen verderben. Wenn man morgen eine Gefahr vor sich hat, bei der man nichts tun kann, als sie abwarten, so soll man in den 24 Stunden dazwischen trotzdem selig sein und seine heutige Sache fort machen. Quält euch nicht im Gemüt über Umstände, die erst morgen kommen sollen, sondern denkt: es ist erst morgen, heute können wir die Zeit noch da und dazu anwenden.“ (Aus einer Predigt von Zinzendorf, in: Auszüge aus des Seligen Ordinarii der Evangelischen Brüder-Kirche Herrn Nicolaus Ludwig Grafens und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf sowol ungedrukten als gedrukten Reden über die vier Evangelisten. Barby 1766.)

Womöglich hat Zinzendorf diese Lektion erstmals während dieser Kutschfahrt ins Ungewisse gelernt. Er musste mit der Sorge „Liebt sie mich oder liebt sie mich nicht?“ umgehen.

Ach ja, die Sorgen: Davon gibt es viele. Jeder und jede von uns hat welche. Manche größere, manche kleinere. Manche sorgen sich um das Weltgeschehen, die Umweltzerstörung, den Krieg an den Grenzen Europas oder im Heiligen Land, die unkontrollierbaren Despoten dieser Welt und was sie alles anstellen können. Manche haben große Sorgen in ihrer Familie, um einen lieben Menschen, der krank ist, um die eigene Existenz, die bedroht ist. Viele von uns sorgen sich auch um unsere Kirche. Und, und , und… Ich muss Ihnen die Sorgen gar nicht alle aufzählen. Sie alle wissen, wovon ich rede.

Die Worte Jesu vom Sich-Nicht-Sorgen klingen  wunderbar – im wahrsten Sinne des Wortes. Und doch regt sich in mir auch ein leiser Widerstand, so schön diese Worte klingen. Leben ohne Sorgen? Leben wie die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Felde? Geht das?  Nein, das geht nicht. Kein Mensch kann sorglos sein. Wer lebt, hat Sorgen, das weiß Jesus auch. Was seine Worte wertvoll macht, unvergleichlich und einzigartig, ist nicht, dass sie uns alle Sorgen wegnehmen, sondern von einem ganz besonderen Vertrauen erzählen, das nicht von dieser Welt ist: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch alles andere zufallen.
Jesu Worte sind wie kleine Paukenschläge gegen die Welt, die voller Sorgen, Angst und Schmerzen ist. Jesus redet von einem Vertrauen, das nicht von dieser Welt ist, aber für diese Welt: Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht.

Da sitzen Menschen am Berg und hören Jesus oder sitzen wie wir hier und hören vom einzigartigen Gottvertrauen dieses Menschen, der bald darauf der Sohn Gottes genannt werden wird: Sorgt nicht um euer Leben ... Ist das kühn? Oder ist das frech?

Nein, das ist Vertrauen. Tiefes Vertrauen, das aus einer anderen Welt kommt, der Welt Gottes. Dort bleibt es aber nicht, sondern wird von Jesus mitgenommen – mitten hinein in unsere Welt, in unsere Sorgen, Ängste und Schmerzen. Vertrauen gehört dahin, wo Misstrauen ist. Jesus spricht mitten hinein in meine Unruhe, meine Sorgen und meine Sehnsucht: Sorgt euch nicht. Jesus hat in diesem Gottvertrauen gelebt und ist in diesem Gottvertrauen gestorben. Was uns wirklich helfen soll in dieser Welt der Sorgen, das kann nicht von dieser Welt sein.
 
Und was machen wir nun mit alldem? Was hilft uns das tiefe Gottvertrauen Jesu, wenn wir es nicht haben? Was sollen wir anfangen mit seinen schönen Worten aus einer anderen Welt – in unserer Welt? Das ist eine gute und ernste Frage. Wir möchten sie zwar nicht haben, die vielen Sorgen, aber wir haben sie.
Jesus lockt unsere Aufmerksamkeit von den Sorgen weg auf andere Dinge, die uns helfen können, mit unseren Sorgen umzugehen. Drei Dinge will ich nennen, die ich in diesem schönen Bibelwort höre:

Und zwar als erstes lockt uns Jesus zum GEHEN. Jesus lockt uns nach draußen. Wenn Sie über die Rehweilerer Flur spazieren gehen oder durch den Steigerwald wandern, dann kommt Ihr Kopf auf andere Gedanken. Dann sehen Sie die Vögel, Blumen und Bäume. Und Sie staunen, wie die wachsen und gedeihen können, ohne sich den Kopf zu zermartern: „Seht die Vögel unter dem Himmel an“, sagt Jesus, und: „Schaut die Lilien auf dem Feld an.“ Wer sich in der Natur umschaut, wer staunen kann über die vielen großen und kleinen Wunder, kann seine Gedanken auch ein wenig weglenken von den eigenen Sorgen. Gott sorgt sich um so vieles, er sorgt auch für mich und dich.

Als zweites lockt uns Jesus mit DENKEN von den Sorgen weg. Jesus sagt: Also denkt mal nach. Wie weit reicht euer Einfluss? „Es kommt erstens anders als man zweitens denkt“ – so sagen wir manchmal etwas flapsig. Sagt da nicht der gesunde Menschenverstand: Ja, ich kann heute dieses oder jenes tun. Aber den Tag morgen habe ich nicht in der Hand. „Darum,“ so Jesus, „sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Verstehen Sie mich nicht falsch. Vorsorge und Planung ist in vielen Lebensbereichen sehr wichtig. Wenn ich manchmal keine Ahnung habe, wie ich alles schaffen soll, hilft es mir zu sagen: Dieser Tag, diese Aufgabe, um mehr muss ich mich jetzt nicht kümmern. „Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“ So schrieb es Papst Johannes XXIII. Nur für heute!  Dafür kann ich mich bewusst entscheiden, mit meinem Denken und meiner Vernunft.

Und nach GEHEN und DENKEN hat Jesus noch ein Drittes, um uns von den Sorgen wegzulocken. Das GEBEN. Jesus sagt, wir sollen unser Leben aus der Hand geben: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ Das Vertrauen wächst und vermehrt sich, wo ich anderen Vertrauen gebe, schenke. Das klingt ziemlich schlicht, aber es ist genau so. Ich kann zwar auf Vertrauen warten, aber dann kommt es eher selten. Vertrauen wird dann groß, wenn ich Vertrauen wage, wenn ich es wirklich will. Was Jesus unvergleichlich macht, ist nicht, dass er ohne Sorgen lebte. Jesus war kein Träumer.
Was Jesus wertvoll macht, ist, dass sein Vertrauen auf Gott immer noch etwas größer war als seine Sorge um sich selber, um seine Lieben, um die Welt. Auch in seiner Welt gab es ja Streit, Krieg, Krankheit und Hunger. Dagegen wollte und hat er das ihm Mögliche getan. Aber er hat nicht planlos drauflos gehandelt, sondern hat aus dem tiefen Vertrauen heraus gehandelt, dass Gott bei ihm ist und zu ihm hält. Diese Welt ist nicht alles, wusste Jesus. Das machte ihm alles etwas leichter, sogar das ganze Schwere, sogar die Ohnmacht. Er vertraute Gott selbst dann noch, als er sich von ihm verlassen fühlte.

Ich möchte Sie um solches Vertrauen bitten; um Ihr großes Vertrauen zu dem, der die Welt und alles Leben geschaffen hat und erhalten will. Ich kann Ihnen nicht die Sorgen nehmen, aber ich möchte Sie um Ihr Vertrauen bitten, also darum, dass Ihr Vertrauen zu Gott immer etwas größer bleibt als alle Ihre Sorgen.
Lassen Sie es mich mit einem ganz alten Wort sagen: Ich möchte, dass wir alle Sorgen Gott ‚anbefehlen’, einbetten in ein großes Vertrauen zu Gott. Dann werden wir besser und klarer erkennen, wo wir selber tätig werden können oder müssen, und wo wir Gott überlassen müssen, was nötig ist zu tun. In Ihrer Rehweiler Kirche können Sie solches Vertrauen lernen und einüben, im Hören auf Gottes Wort, im Erleben der Gemeinschaft, im Singen und Beten.

Wenn uns also die Sorgen wieder über den Kopf wachsen, dann lassen wir uns durch Jesus von diesen Sorgen weglocken, indem wir GEHEN, nach draußen in Gottes Schöpfung, indem wir DENKEN und uns bewusst entscheiden: Nur für heute! und indem wir GEBEN: Vertrauen einüben und schenken: zu Gott und unseren Mitmenschen.
Dem jungen Zinzendorf gelang es damals bei seinem Besuch in Castell, von der Sorge um seine geliebte Sophie wegzukommen und seine Gedanken auf anderes zu richten.
Für wen entschied sich eigentlich die hübsche Sophie Theodora? Für Heinrich Reuß zu Ebersdorf. Zinzendorf ging hier leer aus. Aber Gott sorgte dafür, dass er eine Ehefrau fand. Er heiratete Heinrichs Schwester, Erdmuthe Dorothea Gräfin Reuß zu Ebersdorf, ohne die Zinzendorf nicht so viel hätte „nach dem Reich Gottes trachten können“, weil sie während seiner vielen Abwesenheiten mit ökonomischen Sachverstand seine Güter verwaltete.

Zinzendorf selbst lenkte seine Gedanken von der Cousine weg und konzentrierte sich auf seine Freundschaft mit Sofies jüngerem Bruder, Graf Lutz. Zinzendorf prägte ihn im Sinne der Herrnhuter Brüdergemeine, v.a. als Lutz 1734 Rehweiler erwarb und unter Zinzendorfs Einfluss begann, den Ort zu einer Herrnhuter Siedlung auszubauen. Die Herrnhuter waren nur eine von mehreren Richtungen im damaligen Pietismus, dieser größten evangelischen Erneuerungsbewegung seit der Reformation. Graf Lutz zu Castell-Remlingen löste sich aber mehr und mehr von den Ideen Zinzendorfs und wandte sich einer anderen geistlichen Richtung zu, auch unter dem Einfluss seiner Frau Ferdinande Adriane zu Stolberg-Wernigerode. Aber das ist wieder eine andere Liebesgeschichte.

Die Saalkirche in Rehweiler wurde jedenfalls noch im Herrnhuter Stil fertiggestellt, auch wenn die Rehweilerer keine Herrnhuter, sondern landeskirchliche Christen waren und sind.
Und da befinden wir uns nun in diesem 250 Jahre alten Gebäude und staunen über diesen in Bayern einmaligen Kirchenraum und erinnern uns daran, dass am Anfang die Liebe eines sächsischen Grafen zu seiner Casteller Cousine stand. Dieser Zinzendorf, Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, stand nicht nur Pate bei dieser Ihrer Kirche, sondern hat uns auch den hilfreichen Gedanken hinterlassen: „Man soll sich nicht den heutigen Tag um des morgigen willen verderben … Quält euch nicht im Gemüt über Umstände, die erst morgen kommen sollen, sondern denkt: es ist erst morgen, heute können wir die Zeit noch da und dazu anwenden.“