Liebe Schwestern und Brüder in Christus! Ungezählte steigen am Heiligen Abend abrupt aus / aus ihren Geschäften, aus ihrer Berufs- und Hausarbeit, verlassen die digitale Welt, schalten Computer und Handy für eine Weile aus, besuchen gern die Christvesper oder die Christmette. Sie wollen eintauchen in eine Welt höheren Erlebens, in einen Raum der Feststimmung, des Himmlischen, des Heiligen und Ewigen, in einen Freiraum einer etwas heilen Welt. Menschen suchen den Ausstieg aus ihren vielfältigen Problemzonen.
Es ist der Heiligabend, an dem sie hören, dass Gott genau das Gegenteil tut. Er steigt ein in unsere Welt der Geschäfte, der Politik, der Steuern, der Straßennetze, der täglichen Arbeit, der Wohnungssuche, des Umgangs mit Fremden, in die Welt der Großmächte und der kleinen Leute. Gott steigt also herab und taucht ein in eine ganz und gar unromantische, unheile Welt.
Das ist der Tausch: Der Mensch sucht etwas Glanz vom Himmlischen mitten in seinem irdischen Dasein und Gott sucht den Staub der Erde, das Nichtgewolltsein, die Armut, das Leiden. „Er wechselt mit uns wunderlich: Fleisch und Blut nimmt er an...“
Ob Gott und Mensch sich bei diesem gegenseitigen Suchen unterwegs begegnen?
Wenn man das Entscheidende des Lebens woanders sucht, als es ist, wird es zu Täuschungen kommen oder gar zu Enttäuschungen.
Josef hätte sich fast getäuscht, als er enttäuscht war über Maria. Beinahe hätte er der Anvertrauten nicht mehr vertraut.
Die Inhaber der Herberge hatten sich getäuscht über die Fremden und über das Kind. Sonst hätten sie vielleicht doch Platz in ihrem Haus gemacht.
Und Herodes lag erst recht völlig daneben.
Getäuscht haben sich alle, die glauben, das Entscheidende spiele sich immer da ab, wo die Macht ist und wo die Starken das Sagen haben.
Getäuscht werden sich haben / alle Moralisten, die über das junge Paar getuschelt haben.
Getäuscht haben sich auch die Frommen, die meinten, Gott kann nur denen begegnen, die reine Hände haben.
Nein, das Neugeborene ist imstande, alles auf den Kopf zu stellen.
Ein seltsamer Tausch ist das: Gott wird Mensch, nicht damit wir göttlich werden, nein, damit wir menschlich werden. Damit wir das Verbindende suchen und nicht das Trennende und uns auseinanderdividieren.
Man kann Weihnachten auf viele Weise feiern. Aber man sollte nicht einer großen Täuschung und Selbsttäuschung verfallen über das, was Weihnachten ist und was da geschieht.
Weihnachten ist nicht eine künstlich erzeugte Stimmung, die alles Unschöne und Unangenehme, alles Belastende und Traurige ausblendet. Nein, all das wird an Weihnachten ins rechte Licht gerückt, in ein aufdeckendes und heilendes Licht.
Lukas ordnet die Geschichte Jesu in die große Weltgeschichte ein.
Die Geschichte Gottes und die Geschichte eines Landes berühren sich immer wieder. Segensreich haben wir das erlebt, als die unmenschliche Mauer fiel und die Trennung in Ost und West überwunden wurde. Ein Prozess, der freilich noch andauert. Die Geschichte Gottes und die Geschichte unseres Landes berühren sich aber leider oft auch zum Schämen, wenn anderen Göttern nachgelaufen wird, selbsternannten Führern, dumpfen Parolen, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Verschwörungstheoretikern und anderen Fanatikern.
Die Geschichte Gottes und meine persönliche Lebensgeschichte haben sich auch schon oft berührt: im unverdienten Glück oder unter schlimmen Schmerzen.
Manche Spuren mögen fast verweht sein, es war trotzdem so. In dieser Heiligen Nacht dürfen sie sich neu berühren.
Gottes Geschichte mit mir ist nicht etwas, was man immer gleich erkennt. Sie kann eingewickelt sein in ganz Unscheinbares und ganz Alltägliches, in ein Staunen über das Licht der Sonne am Tag oder der Sterne in der Nacht.
Gottes Geschichte mit mir kann eingewickelt sein in Windeln, in ein Stück Brot, in einen Schluck Wein, in ein gutes Wort, in das Öffnen einer Tür, die schon ins Schloss gefallen war, auch in eine Krankheit, einen Schrecken, eine Warnung.
Nicht alle können heute so Weihnachten feiern, wie sie es gerne getan hätten. Wir kennen Menschen in unserem Umfeld, denen nicht der Kopf nach dem Weihnachtstrubel steht. Ich zögere zu sagen: Ihnen ist überhaupt nicht nach Weihnachten zumute. Denn gerade in ihnen ist die Sehnsucht nach Änderung zum Guten hin, nach Rettung und Heil besonders wach. Mögen sie Nähe und Beistand durch Menschen und durch Gott erfahren, der oft still und unerkannt an unserer Seite mitgeht!
Das ist unsere Hoffnung seit Weihnachten: Gott ist herabgestiegen in unsere Furcht, in Zittern und Bangen, in Todesschweiß und Grabestiefe. In diesem ganz und gar nicht harmlosen Herabkommen Gottes liegt die echte Weihnachtsfreude begründet: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“.
Gott ist herabgestiegen in unser Dasein.
Für die Hirten kam das alles ganz überraschend. Darauf waren sie alles andere als vorbereitet. Freilich, der Himmel über ihnen, der Sternenhimmel allzumal, erzählte ihnen schon immer von der Ehre und Größe Gottes. Aber in dieser Nacht reißt der Vorhang noch einmal besonders auf: „Ehre sei Gott in der Höhe!“
Da waren die Hirten an etwas erinnert worden, was vermutlich in ihren Herzen verschüttet war.
Wo war sie geblieben, die Ehre Gottes in ihrem Leben?
Haben sie Gott noch Lieder gesungen?
Wo war die Ehre Gottes in ihrem Wochenablauf?
Galt ihnen der siebte Tag noch etwas?
Wo war die Ehre Gottes in ihrem Reden, in ihren Wünschen?
Wenn die Ehre Gottes aber das Wichtigste wäre?
Wo bleibt die Ehre Gottes in unserer Zeit, in unseren Dörfern, in unserem Gemeindeleben?
Wo ist die Ehre Gottes in unserem Weihnachten?
Gibt es vielleicht deshalb so wenig Frieden auf Erden und darum so viel Trostlosigkeit, weil wir Gottes Ehre aus dem Blick verloren haben?
Es sind die Engel, die das Lied zur Ehre Gottes singen!
Sie verbinden, was zusammengehört: den Frieden auf Erden mit der Ehre Gottes. Weil es das eine ohne das andere nicht gibt.
„Böse Menschen haben keine Lieder“, heißt es. Gott die Ehre geben, Loblieder singen, das können wir nicht genug tun.
Denn wo das aufrichtig geschieht, da senkt sich der Friede auf die Erde herab. Leider ist es oft nur noch die Weihnachtszeit, wo in den Familien gesungen wird. Eigentlich schade. Denn gerade das Singen hat himmlische Qualität, weil es uns mit der göttlichen Welt verbinden kann. So ist beim Abendmahl, wenn wir das Heilig singen. Dann stimmen wir ein in den Lobgesang der Engel, die Gott die Ehre geben.
Heilig Abend. Jene Nacht ist vergangen. Der Vorhang zu jener anderen Welt ist wieder zu. Die Wirklichkeit Gottes ist nur verhüllt zu haben. Das macht für viele das Glauben so schwer. Doch die Wirklichkeit Gottes ist nicht davon abhängig, ob wir sie sehen. Wir aber sind davon abhängig, dass es sie gibt.
Es ist schon viel, wenn wir heute die Gewissheit neu mit nach Hause nehmen können: Selbst wenn ich Gott nicht spüre, er ist doch still und unerkannt an meiner Seite. Denn er ist herabgestiegen auch in mein Leben.