Predigt über Röm 12,17-21: „Leicht zu verstehen, aber schwer zu tun“ am 4. Sonntag nach Trinitatis, 23.6.24 in Rehweiler
Liebe Gemeinde,
viele biblische Aussagen sind schwer zu verstehen. Das gilt nicht für den gerade gehörten Abschnitt aus dem Brief des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom. Dieser Bibelabschnitt ist leicht zu verstehen, aber schwer zu tun. Auf den ersten Blick scheint er überdies dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht zu schlagen: Bringen nicht Vater und Mutter von früh auf ihren Kindern bei, sich im Kindergarten und in der Schule zu wehren? Müssen sie ihrem Kind nicht einschärfen, zurückzuschlagen, wenn es von einem anderen geschlagen wird? Müssen sie nicht dafür sorgen, dass es sich nicht zum Prügelknaben machen lässt?
Paulus scheint zu einem gänzlich anderen Verhalten aufzufordern: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem.“ „Rächt euch nicht selbst.“ Der Apostel knüpft damit an Verhaltensregeln des Alten Testaments und der Bergpredigt Jesu an. Es war gerade das besondere Verhalten der frühen christlichen Gemeinden, das viele Bürger des Römischen Reiches anzog, die noch keine Christen waren. Die gelebte christliche Ethik überzeugte viele Zeitgenossen, die noch nicht zur Gemeinde gehörten, von der Wahrheit des christlichen Glaubens.
Schauen wir darum genauer hin: Was sind die Charakteristika des vom Apostel Paulus geforderten christlichen Verhaltens? Sind sie wirklich so weltfremd, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hat?
1. „Habt mit allen Menschen Frieden.“
Frieden ist eine Ursehnsucht der Menschheit. Zu allen Zeiten wollten die großen Herrscherpersönlichkeiten von ihren Völkern deshalb als Friedensbringer verehrt werden. Die UNO ist nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit dem Ziel gegründet worden, den Frieden zwischen den Völkern der Welt zu sichern. Das Gleiche gilt – bezogen auf Europa – auch für die EU. Gegenwärtig erleben wir, dass dieser Friede trotz aller Anstrengungen wieder brüchig geworden ist. Es herrscht Krieg zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Israel und den Palästinensern und im Sudan und in Somalia – und an vielen anderen Orten der Erde.
Christen verehren Jesus Christus als den Friedefürsten, der in die Welt gekommen ist, um Frieden zu schaffen: Frieden zwischen einzelnen Menschen und Frieden zwischen den Völkern. Viele von uns wissen aus eigener leidvoller Erfahrung, dass der Krieg im privaten Bereich – etwa zwischen Eheleuten – kaum weniger grausam ist als der Krieg zwischen Völkern und Staaten. Es gibt nur wenige Dinge, die einem die Lebensfreude so vergällen, wie der Unfriede in der eigenen Familie und zwischen Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen. Unfriede lähmt die Lebens- und die Schaffenskraft und führt zu Mutlosigkeit, ja zu Verzweiflung.
Die Frage ist, wie es gelingen kann, mit anderen Menschen dauerhaft in Frieden zu leben – egal ob es sich dabei um den Ehepartner oder andere Familienangehörige, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen handelt. Paulus gibt im Predigttext zunächst einen praktischen Hinweis: „Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ Der Apostel ermutigt also dazu, den Kreislauf von Friedlosigkeit, Hass und Feindschaft zu unterbrechen. Denn Vergeltung führt bloß dazu, dass sich die Spirale des Hasses ewig weiterdreht. Rachegedanken können einen Menschen ganz und gar beherrschen: „Das zahle ich ihm oder ihr aber heim!“
Es ist möglich, diese Spirale zu unterbrechen. Dabei gilt: Keine Veränderung des Verhaltens ohne Veränderung des Denkens! Veränderung des Verhaltens beginnt im Kopf. Ein wirksames Mittel dabei sind gute Gedanken über den anderen. Dietrich Bonhoeffer schrieb: Man soll einen Menschen nicht nach dem beurteilen, was er ist, sondern nach dem, was er leidet. Eine solche Perspektive kann Mut machen, auf Vergeltung zu verzichten und dem Gegner zu vergeben. Sie kann helfen, positive Seiten, vielleicht am Ende sogar liebenswerte Seiten am anderen zu entdecken.
Es spricht für den Realismus und die Nüchternheit der Ethik des Apostels Paulus, dass er mit der Möglichkeit rechnet, dass trotz aller Anstrengungen unsererseits ein anderer Mensch nicht in Frieden mit uns leben will. „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Ich kenne einen Mann, der sich viele Jahre als Jugendlicher und junger Erwachsener gequält hat, weil er von dieser Möglichkeit nichts wusste. Jahrelang lebte er mit seiner Stiefmutter in einem unterschwelligen Dauerkrieg. Er meinte, als Christ die Ursache für ihre Auseinandersetzungen allein bei sich selber suchen zu müssen. Kein Gedanke, dass die Stiefmutter an dem vergifteten Verhältnis zumindest mitschuldig sein könnte. Welche Entlastung hätte es für ihn bedeutet, wenn er damals den nüchternen Hinweis des Apostels Paulus gekannt hätte: „Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden.“ Nach dem Tod der Stiefmutter erfuhr der Mann von seiner Stiefschwester, dass ihre Mutter auch gegenüber ihren leiblichen Kindern nicht in der Lage gewesen sei, Mutterliebe zu empfinden.
Natürlich darf die Möglichkeit, dass ein anderer partout keine Frieden schließen will, nicht als Ausrede für die eigene Unversöhnlichkeit missbraucht werden. Als Petrus Jesus einmal fragte, wie viel Male er seinem Bruder vergeben müsse: „Genügt es siebenmal?“, antwortet Jesus ihm: „Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ So wie Gottes Vergebungswillen uns gegenüber grenzenlos ist, sollen auch wir bereit sein, einem Menschen, der an uns schuldig geworden ist, immer wieder zu vergeben.
Für einen Christen gibt es keine hoffnungslosen Fälle! Selbst wenn es uns – trotz aller Bemühungen – nicht gelingt, mit einem anderen Menschen in Frieden zu leben, gibt es immer noch das Gebet: Es ermöglicht uns, den anderen und uns selber Gott anzubefehlen. Dadurch kann es geschehen, dass sich auf geheimnisvolle Weise zumindest unsere eigene Sicht auf den Nächsten verändert. Immer wieder werden wir dann erleben, dass sich in der Folge davon auch das Verhalten des anderen uns gegenüber zum Positiven verwandelt.
2. „Rächt euch nicht selbst, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes.“
Gegen das Gebot der Feindesliebe oder gegen den Verzicht auf Vergeltung wird immer wieder eingewandt, dass dadurch dem Bösen im menschlichen Miteinander Tor und Tür geöffnet würde. Werden dann nicht Bosheit und Unrecht zwischen Einzelnen und zwischen Völkern ungehemmt triumphieren? Paulus begegnet diesem Einwand mit dem Hinweis auf Gottes Zorngericht: Gott ist es, der vergilt. Die Vergeltung ist nicht unsere Angelegenheit! Allerdings muss der Gedanke, dass es Gott ist, der vergelten wird, vor einem schwerwiegenden Missverständnis geschützt werden. Der Hinweis auf Gottes Vergeltung ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass an die Stelle meiner menschlichen Rache nun einfach die himmlische Rache durch Gott treten würde. Damit wäre Paulus gründlich missverstanden. Christen glauben, dass alle Menschen, sie selbst zuerst, Gott gegenüber tief in der Schuld stehen. Es besteht daher keinerlei Grund, sich über den anderen, der an mir schuldig geworden ist, zu erheben. So oder so sind alle Menschen angewiesen auf Gottes unerschöpfliche Barmherzigkeit. Weil alle vor Gott gleichermaßen schuldig sind, verliert mein menschlich verständlicher Wunsch nach Rache an Plausibilität.
Es kommt noch etwas anderes hinzu: Gottes Rache kann, nachdem Jesus Christus in die Welt gekommen ist, nicht unabhängig vom Evangelium gedacht werden. Gott ist kein in den Himmel projizierter menschlicher Rächer. Gottes Vergelten ist nicht identisch mit dem, was ein Mensch in der ersten spontanen Reaktion seinem Feind an den Hals wünscht. Gott überwindet auch in seinem Gericht das Böse nicht anders als durch seine Liebe. Er bringt im Gericht zwar tatsächlich Menschen und Verhältnisse zurecht – aber durch Liebe.
Allerdings bleibt die Möglichkeit bestehen, dass jemand sich von dieser Liebe Gottes nicht zurechtbringen lassen will. Der Theologe Karl Barth sprach in diesem Zusammenhang von einer „unmöglichen Möglichkeit“. Er wollte damit ausdrücken, wie unvorstellbar es eigentlich ist, dass jemand Gottes zurechtbringende Liebe zurückweist.
3. „Überwinde das Böse mit Gutem.“
Zu hoffen, dass Gott es übernimmt, die eigenen Rachegelüste zu befriedigen, ist also nicht das, was Paulus meint. Seine Vorstellung vom christlichen Verhalten sieht anders aus. Er fordert dazu auf, der Macht der Liebe zu vertrauen: „Wenn deinen Feind hungert, gibt ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Damit sind wir beim Kern, im Zentrum, der christlichen Ethik angelangt.
Auch wer sonst nicht weiß, wie christliche Ethik aussieht, kennt zumindest das Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt. „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ Paulus fordert im Römerbrief nichts anderes, als was Jesus in der Bergpredigt gesagt hat.
Immer wieder haben sich Menschen von den Anweisungen Jesu zur Feindesliebe faszinieren lassen. Gleichzeitig hat die christliche Ethik durch ihre Unbedingtheit und Absolutheit etwas Schockierendes. Allerdings sage keiner, dass das Gebot der Feindesliebe weltfremd sei. So hat dieses Gebot im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens vom Britischen Empire Gandhis Handeln maßgeblich bestimmt. Im berühmten Film über Gandhi von Richard Attenborough kann man auf den Gesichtern der englischen Soldaten die Erschütterung ablesen, auf wehrlose Männer und Frauen einprügeln oder gar schießen zu müssen. Durch den gewaltlosen Widerstand der Inder wurde die britische Kolonialmacht von Innen heraus überwunden.
Auch die friedlichen Demonstrationen in Leipzig vor 35 Jahren mit Kerzen und Gebeten, die zur Wiedervereinigung führten, sind ein Beleg für die Wirksamkeit der Feindesliebe bis in den politischen Raum hinein. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Situationen geben kann, in denen es um des Schutzes eines Staates und Volkes willen nötig sein kann, notfalls auch kriegerische Mittel zur Verteidigung anzuwenden.
Derjenige, der seinem Feind wohltut, nicht Böses mit Bösem vergilt, sammelt glühende Kohlen auf dessen Haupt. Ein drastisch-anschauliches Bild: So unerträglich, wie es für einen Menschen ist, glühende Kohlen auf dem Haupt zu tragen, so unerträglich kann es für einen Menschen werden, seine feindliche Gesinnung aufrechtzuerhalten, wenn ihm Gutes getan wird. Er fühlt sich genötigt, seine Haltung dem Gegner gegenüber aufzugeben! Güte hat die Kraft in sich, den Gegner zu beschämen und auf diese Weise seine Feindschaft zu überwinden. Allerdings ist auch hier daran zu erinnern: Selbst gütiges, ja sogar liebevolles Verhalten bietet keine Garantie dafür, dass der Feind zum Freund wird. Das gilt für den zwischenmenschlichen Bereich genauso wie für den gesellschaftlich-politischen Raum.
Die Anweisungen des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Rom erweisen sich bei näherem Hinsehen also durchaus nicht als weltfremd! Es sind keineswegs bloße Wunschträume eines religiösen Naivlings. Im Gegenteil: Sie enthalten ein Friedenspotenzial, das leider nur selten ausgeschöpft wird – weder im Hinblick auf das Verhältnis von Einzelnen, verfeindeten Menschen noch von ganzen Völkern und Staaten.
Wie oft fehlt sogar in der christlichen Gemeinde der Mut, nach dem Gebot Jesu zu handeln! Kein Wunder, dass beim Blick auf die Geschichte des Christentums und der anderen monotheistischen Religionen der Eindruck aufkommen konnte, als sei es durch sie sogar noch zu einer Steigerung des Gewaltpotenzials in der Welt gekommen. Denken wir nur an die vielen Religionskriege, die im Verlauf der Geschichte Europas geführt wurden.
Den Mut zur Feindesliebe haben wir nicht von Natur aus in uns. Er muss uns von Gott durch seinen Geist geschenkt werden. Lassen Sie uns Gott im Gebet darum bitten!