Gegen den beispiellosen militärischen Überfall Wladimir Putins auf die Ukraine formiert sich inzwischen zunehmend auch ein in die Breite wirkender geistlich motivierter Widerstand. Ökumenische Friedensgebete gab es zwar schon von Beginn des Ukraine-Kriegs an, aber es zeigt sich mehr und mehr, dass es nicht nur die Schar der kirchlich Hochverbundenen ist, die Kerzen entzünden und gemeinsam singen, beten oder fasten.
Doch was kann der Inhalt christlicher Fürbitten für den Frieden in der Ukraine sein? Gott muss doch kaum an seine Friedensmission unter den Menschen erinnert werden, die er im Evangelium von Jesus Christus bezeugen ließ. Immer wieder wird auf die Kraft des gemeinsamen Betens verwiesen. Aber in welche Richtung wirkt diese Kraft? Das Herz Gottes muss sie nicht erreichen, denn dieses Herz – so glauben wir Christen – ist doch schon für uns Menschen erwärmt – für die Opfer des Krieges, für diejenigen, die – meist unschuldig – leiden. Wirkt die Kraft des Betens also mitten hinein in die Zonen von Gewalt, Hass und Friedlosigkeit? Ist es am Ende so, dass wir Menschen mit unserem Beten nicht Gottes Arm bewegen (der andernfalls untätig bliebe!), sondern Gott seinen Arm durch unser Beten bewegt? Dass also er, Gott, unser Beten will, weil genau dieses Beten seine, Gottes, Machtsphäre ist?
Ich bin davon überzeugt, dass Gottes Freiheitsspielraum, den er den Menschen zuerkennt, auch dann bestehen bleibt, wenn der Mensch diesen Freiheitsspielraum nutzt, um egozentrisch zu handeln, um sich von Gott abzuwenden, um dem Bösen zu dienen. Gott ging mit seiner Welt und seinem Menschen das Risiko der Sünde mit ein – von Anfang an. Wo Menschen diesen Freiheitsspielraum auf diese Weise nützen, da zieht sich Gottes heilsame und heilende Kraftwirkung zugleich zurück, oder besser: sie wird zurückgedrängt. Dass sich Gott derart zurückdrängen lässt, zeigt sich nicht zuletzt an der Geschichte Jesu Christi selbst. Wo Menschen sich der Wirksamkeit des Geistes Gottes bewusst verschließen, dort bleibt der Geist Gottes dann ebenfalls vor der Tür. Und Krieg ist per se der Ort, an dem der Geist Gottes mit Gewalt ausgetrieben werden soll.
Doch das gilt nur vorläufig, nur vorübergehend, nur partiell – wie bei allem, was innerhalb der Geschichte geschieht. Da ist nichts absolut oder total, sondern alles ist relativ und partikular bzw. temporär. Und genau aus diesem Grund sind unsere menschlichen Gebetsanstrengungen so wertvoll. Sie sind kein Werk, mit dem sich Gott zu etwas bewegen ließe, was er nicht ohnehin schon wollte. Solch ein Werk hat weder Gott noch haben wir Menschen es (post Christum natum) nötig. Aber unsere Gebete sind Zeichen für etwas anderes in dieser Welt, das neben den zerstörerischen Kräften, die der Mensch zu entfalten imstande ist, auch noch wirksam wird: die Kraft göttlicher Liebe und göttlicher Überwindung des Bösen. Ja, mehr noch: unsere Gebete sind nicht nur Zeichen dessen, sondern sie sind Energiezentren des göttlichen Geistes unter uns Menschen. Mit unserem Beten laden wir Gottes Geist dazu ein, in unsere Mitte zu kommen und aus dieser Mitte heraus seine Wirksamkeit zu entfalten.
Für diese Wirksamkeit kennt die christliche Tradition verschiedene Ausdrucksweisen: wir sprechen von Gnadengaben oder Charismen, aber auch von Heil, Schalom oder Segen. Der Segen ist eine besondere Form, in der sich der Geist Gottes manifestiert. Jemanden zu segnen heißt, ihn der Wirksamkeit des göttlichen Geistes anzubefehlen. So verstanden ergibt auch Jesu Wort, die Feinde zu segnen, einen besonderen Sinn. Es geht nicht darum, ihnen Gutes zu wünschen, noch weniger darum, ihr Handeln für gut zu halten. Es geht darum, ihre Bosheit der verwandelnden Macht des Geistes Gottes zu überantworten. Segen, wo er wirksam wird, zerstört die Mächte des Bösen und des Todes. In diesem Sinne haben Gewaltherrscher vom Schlage Putins Gottes Segen bitter nötig.
In friedloser Zeit grüßt Sie und wünscht Ihnen den Frieden Jesu Christi Ihr
Peter Haigis