Der Psalm 31 (Text siehe am Ende) ist als Psalm für den Kirchentag in Nürnberg im kommenden Jahr ausgewählt worden. Vier Schritte will ich mit Ihnen gehen:
1. Psalm 31 als vertrautes Gebet
2. Psalm 31 schwankt zwischen Klage und Rettung
3. Der Wunsch nach Rache und Vergeltung
4. Psalm 31 als Kirchentagspsalm
1. Psalm 31 ist ein vertrautes Gebet
Dieser Psalm 31 ist uns vertraut als Introitus vor der Passionszeit.
Es ist ein Gebet mit vielen ansprechenden Bildern, die oft Bezüge zu anderen Bibelworten enthalten:
Gott wird als Zufluchtsort, als Fels und Burg angeredet.
In deine Hände befehle ich meinen Geist – so betet Jesus nach dem Lukasevangelium am Kreuz.
Die Bitte um Errettung vor Feinden findet sich auch in vielen anderen Psalmen.
Du stellst meine Füße auf weiten Raum. Auch das ein Satz aus Psalm 31. Wie vertraut klingt er?! und ähnlich wie im Psalm 18: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.
Meine Zeit steht in deinen Händen. Das sind Worte, die uns immer wieder tragen, beim Jahreswechsel, oft auch beim Abschied am Grab.
Beim Beten dieses Psalms können wir die angesprochenen Anliegen auch heute noch auf unsere eigene Not und unseren Dank an Gott beziehen.
2. Zwischen Klage und Rettung
Das Gebet: „Meine Zeit steht in deiner Hand“ betet ein Mensch, der noch nicht Geborgenheit empfindet, denn derselbe Satz geht so weiter:
Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. Hier sieht sich ein Mensch der Gewalt anderer Menschen ausgesetzt. Er bittet Gott um Rettung aus der Hand seiner Feinde. Er bittet Gott um Seinen Schutz und Segen: Lass leuchten dein Antlitz über deinem Knecht; hilf mir durch deine Güte! Mit Knecht ist nicht der Sklave gemeint. Es ist hier ein Ehrentitel. Knecht Gottes ist jemand, der sich eng mit Gott verbunden weiß, sei es durch einen Auftrag von Gott, sei es durch eine tiefe Liebe zu Gott. Lass leuchten dein Antlitz über deinem Knecht.
Ich muss da an einen gleichaltrigen Kollegen denken. Er und seine Frau haben mit mir Examen gemacht. Gelegentlich kreuzten sich unsere Wege. Nun hat er mir am vergangenen Montag auf eine Mail geantwortet. So erfuhr ich überhaupt erst vom Tod seiner Frau zu Beginn dieses Jahres. Sie war ein Jahr jünger wie ich. Mitte November letzten Jahres wurde bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt. Keine zwei Monate später war sie tot.
In der Beerdigungsansprache, die mir mein Kollege zukommen ließ, sagte eine weitere Kollegin:
An dem Tag im November, als sie ihre Diagnose bekommen hat, habt ihr euch gegenseitig Predigten von Rainer Oechslen vorgelesen und da waren auch folgende Worte:
„Wir können leben im heiteren Licht, weil wir in der Tiefe unseres Herzens wissen: Mag unsere letzte Stunde kommen, wann immer sie kommen will, heute oder in 30 Jahren, es wird die rechte Zeit sein, die Zeit, aus dem Licht dieses Lebens hinüberzugehen in das andere Licht, das Licht der Ewigkeit. Es wird die Zeit sein, da wir eintreten in das wahrhaft heitere, das abendlose Licht, hinübergehen in den Tag, dem kein Abend folgt“.
Rainer Oechslen musste selbst seine Frau früh hergeben. Seine Worte sind durchlitten. Auch wenn da nicht ausdrücklich von der Hand Gottes die Rede ist, das Vertrauen in Gottes Nähe, in seinen Schutz, in sein leuchtendes Anlitz, ist spürbar.
3. Ein Drittes. Der Wunsch nach Vergeltung.
Haben Sie schon einmal Gott gebeten, dass er Rache üben soll an denen, die Ihnen Gewalt antun oder angetan haben? Hier geschieht es: „Die Frevler sollen zuschanden werden und verstummen im Totenreich.
Verstummen sollen die Lügenmäuler, die da reden wider den Gerechten frech, stolz und höhnisch.
Über die gewalttätigen Feinde wird gesagt, dass sie Lügen verbreiten, dass sie den Beter schlechtmachen und gegen ihn hetzen. Fake news und hate speech schon damals. Der Wunsch nach Vergeltung ist nachvollziehbar. Das Gebet hat hier die psychologische Funktion eines Ventiles. Der Verfolgte kann Dampf ablassen. Er reagiert nicht kopflos. Er nimmt auch nicht selbst Rache, sondern überlässt Gott die Vergeltung.
Vor 10 Tagen wurde das Auto eines Kitzinger Stadtrats mit Brandbeschleuniger angezündet. Einem 27-jährigem gefiel wohl die politische Einstellung des Stadtrats nicht und er ließ seinen Hassgefühlen freien Lauf. Wir erleben eine Zunahme von Angriffen auf Politiker und Polizisten in unserem Land. Das macht uns Sorgen. Eine gute, friedliche demokratische Streitkultur ist eine Errungenschaft, die es zu schützen und zu stärken gilt in unserer Zeit.
4. Zum Vierten: Psalm 31 als Kirchentagspsalm
Wir sind mitten in der 5. Welle der Pandemie. Die Diskussion über Lockerungen der Corona-Maßnahmen einerseits und über eine Impfpflicht andererseits ist in vollem Gang. Wem soll ich Glauben schenken und vertrauen? Wer sagt, was richtig ist?
Der dramatische Klimawandel ist im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Nun wird der Streit über geeignete Gegenmaßnahmen immer heftiger. Wie schnell müssen wir handeln? Wessen Position setzt sich durch? Was befördert, was behindert das Umdenken? Auf dem Kirchentag werden diese und andere Reizthemen aufgenommen. Christinnen und Christen haben verschiedene Meinungen und können diese zum Ausdruck bringen – ja, eine offene Diskussion im streitbaren Austausch von Argumenten ist sinnvoll und notwendig. Denn es ist wichtig zu erkennen, was jetzt „an der Zeit“ ist, was „die Stunde geschlagen“ hat. Wo die abweichende Meinung aber diffamiert wird, wo Menschen für eine bestimmte Meinung angefeindet werden, wo Demonstrationen zum Aufbegehren des Volkes gegen „die da oben“ hochstilisiert werden, wo Fackelzüge vor Politikerwohnungen die dunkle Vergangenheit Deutschlands beschwören, da ist Einhalt zu gebieten. Hass, Lügen, Verschwörungsdenken und Hetze müssen als das benannt werden, was sie sind: gemeinschaftszerstörende Taten um des Rechthabens willen. In der Kirche und auf dem Kirchentag soll eine offene Diskussion möglich sein, gepaart mit dem Willen, dazuzulernen und auch bereit zu sein, sich gegebenenfalls korrigieren zu lassen.
Ich fasse zusammen: Mit dem Psalm 31 können wir die Nöte unserer Tage vor Gott bringen und von Gott Hilfe, Schutz und Segen erbitten.
Gott gibt Mut und Kraft, gegen Lügen und Verleumdung vorzugehen. Gott gibt Mut und Kraft für Zusammenhalt einzutreten und die Gemeinschaft zu fördern.
Wir dürfen auf Gottes Güte trauen. Denn „In seiner Hand liegt meine Zeit, ruht mein Leben“.
Der bzw. die Betende weiß sich behütet von Gott und getragen von der Gemeinschaft der Gottesdienstgemeinde. Der Psalm 31 schließt nämlich mit einer Aufforderung an die Mitbetenden:
Liebet den Herrn, alle seine Heiligen! Der Herr behütet alle, die sich zu ihm halten. Aber wer sich überheblich verhält, den zieht er gründlich zur Rechenschaft. Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Psalm 31
(Bittgebet 2-5. Klage und Bitte um Hilfe 10-19)
15Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott!
16 Meine Zeit steht in deinen Händen.
Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen.
17 Lass leuchten dein Antlitz über deinem Knecht;
hilf mir durch deine Güte!
18Herr, lass mich nicht zuschanden werden;
denn ich rufe dich an.
Die Frevler sollen zuschanden werden
und verstummen im Totenreich.
19Verstummen sollen die Lügenmäuler,
die da reden wider den Gerechten frech, stolz und höhnisch.
(Rückblick auf erfahrene Rettung 20-23)
20Wie groß ist deine Güte, Herr,
die du bewahrt hast denen, die dich fürchten,
und erweisest vor den Menschen
denen, die auf dich trauen!
21Du birgst sie im Schutz deines Angesichts vor den Rotten der Leute,
du verbirgst sie in der Hütte vor den zänkischen Zungen.
22Gelobt sei der Herr; denn er hat seine wunderbare Güte
mir erwiesen in einer festen Stadt.
23Ich sprach wohl in meinem Zagen:
Ich bin von deinen Augen verstoßen.
Doch du hörtest die Stimme meines Flehens,
als ich zu dir schrie.
(Aufforderung an Zuhörer 24f.)
24Liebet den Herrn, alle seine Heiligen!
Die Gläubigen behütet der Herr und vergilt reichlich dem, der Hochmut übt.
25Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret!