„Heute sind wir in einer anderen Welt aufgewacht.“ Sie kennen diesen Satz. Am 24. Februar hat ihn Annalena Baerbock gesagt. Vor gut 300 Tagen war das, als Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine angefangen hat.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Dieser Satz sollte sagen: Gewissheiten, Gewohnheiten, Hoffnungen, die gestern unsere Gesellschaft noch getragen haben – all dies hat sich über Nacht verflüchtigt.
- Die Gewissheit, dass die Grenzen und die Selbstbestimmung eines anderen Landes respektiert werden würden – von Panzern überrollt.
- Die Gewohnheit, dass Krieg in Europa der Vergangenheit angehört, dass die Rechtsordnung geachtet und internationale Verträge eingehalten werden – von Raketen zerschossen.
- Die Hoffnung, dass Argumente und Diplomatie die Mittel der Wahl sind – zerstoben.
Weil der Blick auf die Welt zu unterschiedlich war.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Wer das sagt, signalisiert zugleich etwas Grundsätzliches. Nichts ist mehr wie zuvor. Wir erleben eine Zeitenwende.
Die Erschütterung, die wir durch den Angriffskrieg erlebt haben, wirkt lange fort. Denn es wurden grundsätzliche Fragen aufgeworfen.
Was gestern galt, ist grundsätzlich fraglich geworden – im Politischen.
Pazifismus und Abrüstung – das war gestern. Jetzt gilt es als zu naiv.
Heute droht man mit Waffen. Es ist die Kraft des Stärkeren, die zählt, nicht die Macht der Worte und der guten Absicht. So versucht eine Mehrheit der Staaten Grenzen zu markieren und Russland zu isolieren.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Gestern hatten wir gedacht, unsere Lebensweise sei für alle überzeugend. Jetzt müssen wir lernen: Freiheit und Wohlstand sind nicht dasselbe. Freiheit hat einen Preis. Sie hat eine Würde, die es mit hohem Einsatz zu bewahren und zu verteidigen gilt.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Was gestern war, muss neu verhandelt werden. Das ist auch die Erfahrung der Kirche.
An das Gute im Menschen zu glauben – das war gestern. Feindesliebe als politische Option einzufordern – darüber wird heute gestritten und gerungen.
Und auch das lernen wir in der Kirche: Das Christentum hat viele Gesichter. Manche bleiben uns fremd. Wir bleiben anderen auch fremd. Ökumene hin oder her.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Bisher meinten viele, dass ihnen die Situation anderer Menschen und Völker egal sein kann. Jetzt wird deutlicher, wie alles miteinander zusammenhängt. Die Zeit der Unschuld ist vorbei. Mein Lebensstil hat auch Auswirkungen auf andere und auf das Klima.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Dahinter steckt auch das Gefühl: Wir erleben eine Zeitenwende. Und zwar eine Zeitenwende hin zum Schlimmeren. Das Wort Zeitenwende wurde zum „Wort des Jahres 2022“ gewählt. Es kommen härtere Zeiten auf uns zu, das spüren wir. 100 Milliarden Sondervermögen für Militärausgaben. Es droht eine Zeitenwende zum Härteren
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Zeitenwende.
Gab es das nicht schon? Eine Zeitenwende, die Anlass zur Hoffnung gibt? Ja. Von dieser anderen Zeitenwende handelt der Predigttext für diesen Tag. Er steht im Kolosserbrief im 2. Kapitel:
In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.
Liebe Gemeinde!
Wir sind heute auch in einer anderen Welt aufgewacht.
Wir feiern Weihnachten. Trotz aller Krisen, die es gibt.
Die Geburt Jesu markiert die entscheidende Zeitenwende.
Wir zählen die Jahre nach Christi Geburt.
Diese Zeitenwende bestimmt unseren Glauben.
Jesus Christus ist geboren.
Er schließt uns das Geheimnis Gottes auf.
Gott ist anders.
Er setzt nicht auf Gewalt, sondern reicht die Hand zur Versöhnung und bietet Frieden an.
Er bricht nicht mit der Tür ins Haus, sondern klopft an und will aus freien Stücken eingelassen werden.
Er zielt nicht auf Unterwerfung, sondern auf freies Vertrauen.
Er verbreitet keine Angst, sondern führt aus Enge und Ängsten in die Weite.
Er kommt in unser Dunkel und zündet ein Licht an.
Er bricht verhärtete Herzen auf.
Er befreit von Selbstbezogenheit und falschem Egoismus und ermutigt zu Mitgefühl und Solidarität
Er schenkt den Müden neue Kraft und erfüllt die Trauernden mit Zuversicht.
Weihnachten ist die Verheißung, dass es mit der Zeitenwende durch Christus über die scheinbar letzte Generation hinaus weitergeht.
Doch das ist kein Automatismus. Gott rettet unsere Erde nicht vor unserer Gier. Sein Weg in Christus ist ein anderer.
Er entmächtigt uns Menschen nicht, sondern er ermächtigt uns zum rechten Handeln.
Wir sollen aus der Gemeinschaft mit Christus leben.
Aufgrund der Zeitenwende durch die Geburt Jesu ist eine unzerstörbare Hoffnung in unserer Welt durch das Leben, den Tod und die Auferweckung Jesu.
Der Glaube schenkt nicht nur eine Hoffnung über den Tod hinaus, sondern stiftet an, schon heute dem Leben zu dienen, in jedem Menschen Gottes Ebenbild zu sehen und die Not des Nächsten in der Nähe und in der Ferne zur eigenen zu machen.
Heute sind wir in einer anderen Welt aufgewacht, denn Christus ist geboren. In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Die Welt ist darum immer mehr als die traurige Realität. Die Welt ist auch eine andere, weil Gott in ihr da ist, verborgen oft.
Man muss schon genau hinschauen. Manchmal ist der Blick durch Tränen und Zukunftsängste getrübt. Manchmal könnte man auch verzweifeln, weil man die göttliche Weisheit kaum entdeckt. Aber in Christus ist das Neue da, die ganze Fülle der Gottheit – wie es im Kolosserbrief heißt.
Wir wissen nicht, welche Zeitenwenden uns noch bevorstehen. Doch das dürfen wir glauben und festhalten: Mit dem Kommen Jesu Christi hat sich die entscheidende Zeitenwende schon ereignet. Das ist die Hoffnung, die von Weihnachten ausgeht.
Gebe es Gott, dass wir immer wieder morgens aufwachen und die Gewissheit spüren: Heute bin ich in dieser Welt aufgewacht, aber doch auch in einer anderen Welt, die schon längst von Gott durchdrungen ist.
Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und Gedanken in der Gemeinschaft mit Jesus Christus bewahren.
Hanns Dieter Hüsch
Im übrigen meine ich, dass Gott uns das Geleit geben möge immerdar auf unserem langen Weg zu unserer Menschwerdung.
Und er möge uns die vielen Streitigkeiten von morgens bis abends verzeihen.
Das Hin- und Herlaufen zwischen den vielen Fronten,
und all die Vorwürfe, die wir uns gegenseitig machen,
möge er in herzhaftes Gelächter verwandeln
und unsere Bosheiten in viele kleine Witze auflösen.
Er möge in unsere Stuben kommen
und unsere Habseligkeiten segnen,
unsere Tassen und Teller, die Kanne,
die Zuckerdose und den Salzstreuer,
die Essigflasche und den Brotkorb.
Ja, er möge sich zu uns an den Tisch setzen und erkennen, wie sehr wir ihn alle brauchen,
überall auf der ganzen Welt.
Gebet
Gott, du hast uns beschenkt.
Aus der Tiefe des Lichts,
aus der Liebe ohne Ende.
aus der Freude ohne Maß,
aus dem Mitleid ohne Grenzen
hast du uns beschenkt, ewiger Gott.
Was wir zustande bringen an Liebe, Freude und Mitgefühl ist oft nur mittelmäßig. Gerade deswegen beschenkst du uns, damit noch mehr Liebe, Freude und Mitgefühl in uns und durch uns lebt.
Bewahre dein Licht unter uns. Lass die Hoffnung nicht vertrocknen.
Gib uns deinen Frieden.
Ich wünsche Ihnen einen guten Beschluss des Jahres 2022 und auch im Jahr 2023 nach Christi Geburt die Gewissheit:
"Du bist der Ort, den Gott gesucht und gefunden hat, um da zu wohnen."
Ihr Pfarrer Hans Gernert