Wenn Menschen nach ihren religiösen Bedürfnissen handeln, dann stellen sie sich einen Altar auf. Sie richten einen Herrgottswinkel ein, sie bringen allerlei zum Grab eines lieben Menschen, sie bauen eine Kirche – in Haag sogar „auf Befehl des himmlischen Königs“.
Wenn wir bei Jesus suchen, wie er es gemacht hat, dann zeigt sich da ein Unterschied. Soweit wir aus der Überlieferung wissen, hat Jesus keinen Altar aufgestellt. Er hat den Tempel und Synagogen als gegeben vorausgesetzt und ist selbst immer wieder dorthin gegangen.
Er hat nirgend befohlen, besondere religiöse Riten einzuhalten. Ihm ging es immer um den Menschen. Das können wir an seinem Gleichnis vom barmherzigen Samariter erkennen. Jesus legt dieses Gleichnis so an, dass der Gottesdienst und der Dienst im Tempel für einen Priester und einen Leviten bereits vorbei sind. Denn sie haben Jerusalem hinter sich gelassen. Ihre Marschrichtung geht von Jerusalem nach Jericho hinab. 1000 Höhenmeter durch felsige Schluchten. Für Räuber ein gutes Gelände um Beute zu machen. Jetzt müssten sich der Priester und der Levit bewähren und umsetzen, was ihnen durch die Thora gesagt ist: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Doch nicht sie, sondern ein mit Vorurteilen belegter und gemiedener Samariter, der für sie das falsche Gesangbuch hat, hilft dem, der von Räubern zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde. Glaube muss sich im Alltag bewähren. Glaube will jeden Tag gelebt werden.
Den Glauben im Alltag leben
Dieses Anliegen trieb die Pietisten vor 300 Jahren an, auch außerhalb der kirchlichen Formen ihren Glauben zu leben, Tag für Tag. Aus diesem Anliegen erfand Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf die Herrnhuter Losungen für die Gemeinde, die sich auf seinem Gut in Herrnhut angesiedelt hatte. Nach ihm, dessen 300. Geburtstag im Jahr 2000 begangen wurde, wurde das Gemeindehaus in Rehweiler benannt: Zinzendorfhaus. Man muss aufpassen, dass man Zinzendorf nicht mit „s“ schreibt, auch wenn es jetzt langsam wieder ein paar Zinsen für Spargelder gibt.
Graf Lutz eifert Zinzendorf nach
Zinzendorf hat bei Besuchen in Castell einen mächtigen Eindruck auf seinen sieben Jahre jüngeren Cousin, den Grafen Lutz, gemacht. So fand der junge Graf Lutz zu einem erweckten Glauben, der dazu führte, dass er sich für besser hielt als seine Mutter und Geschwister. Dies ist Ihnen hinlänglich bekannt. Großen Einfluss auf den jungen Grafen hatte auch sein Privatlehrer, der junge pietistische Theologe Johann Georg Hertel. Hertel unterstützte die Bemühungen des Grafen Lutz, eine pietistische Kolonie nach dem Vorbild Herrnhuts im Steigerwald aufzubauen „Zur Ausbreitung des Reiches Gottes in Frankenland“. Dazu verkaufte ihm Hertel am 1. September 1734 sein Gut Rehweiler samt dem ganzen Dorf. So hatte Graf Lutz einen persönlichen Herrschaftsbesitz mit Steuereinnahmen. In Rehweiler war Graf Lutz sein eigener Herr, d. h. er musste nichts mehr mit seinen Brüdern absprechen. Nach damaligen Recht war er auch der oberste Kirchenherr in Rehweiler. Es verwundert darum nicht, dass er in Rehweiler nicht das Gesangbuch der Grafschaft Castell einführte und benutzte, sondern das Herrnhutische Gesangbuch. Als oberster Kirchenherr konnte er auch die Prediger selbst berufen. Anfangs predigte er selbst und sein Rat Johann Georg Hertel und andere Gemeindeglieder. Pietisten aus Prichsenstadt, die in der Markgrafschaft Ansbach nicht geduldet wurden und Erweckte aus anderen Orten zogen 1736, nach Rehweiler. Die Schlössleinskolonie wurde erbaut. An zwei Häusern kann man über dem Eingang noch die Jahreszahl 1737 lesen.
Graf Lutz lernt Gerhard Teerstegen kennen und schätzen
In diesem Jahr 1737 reiste Graf Lutz nach Holland, um sich ein Bild von den Gottesdiensten in der reformierten Kirche, bei den Mennoniten, Remonstranten, Quäkern und anderen zu machen und von ihnen zu lernen. Auf dieser Reise predigte er nach dem Vorbild Zinzendorfs in Elberfeld auf offener Straße. In kurzer Zeit habe er an die 10.000 Anhänger gehabt. Die Regierung witterte einen Umsturz und ließ den Casteller Grafen gefangen nehmen und nach Düsseldorf bringen. Der Vorfall wurde öffentlich. Die Frankfurter Zeitung berichtete darüber. Seine Verwandtschaft setzte sich für ihn ein. Nach 14 Tagen kam er wieder frei und setzte seine Reise nach Holland fort. Seit dieser Zeit in Elberfeld schloss Graf Lutz enge Freundschaften mit dem Kreis um Gerhard Teerstegen. Gerhard Teerstegen war 10 Jahre älter als Graf Lutz. Sein bekanntestes Lied „Gott ist gegenwärtig“ werden wir noch singen.
Wer war Gerhard Teerstegen?
Teerstegen (1697-1769) verlor mit 6 Jahren seinen Vater, einen Kaufmann. Er wollte gern Theologie studieren, doch seine Mutter hatte das Geld fürs Studium nicht. So machte er eine Kaufmannslehre in Mühlheim an der Ruhr. Während einer bedrohlichen Kolik legte der das Gelübde ab, sein Leben ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Nach seiner Gesundung schloss er sich pietistischen Kreisen in Mühlheim an. Er eröffnete einen eigenen Kaufladen. Doch er empfand diese unruhige Tätigkeit als nicht vereinbar mit seinem Christentum. Darum erlernte er das Seidenbandweben. So konnte er in der Stille und Einsamkeit leben, sein Geld mit Bedürftigen teilen, die Bibel lesen und Schriften von Mystikern studieren. Auf der Lateinschule hatte er Latein, Griechisch, Hebräisch und Französisch gelernt. Neben Zinzendorf gehört Teerstegen zu den großen Laien und theologischen Autodidakten der evangelischen Kirchen. Teerstegen vertrat eine quietistische Mystik, die auf passive Kontemplation zielt. Der Betende nimmt sich ganz zurück und überlässt sich ganz dem Wirken Gottes. „Gott ist gegenwärtig, alles in uns schweige und sich innigst vor ihm beuge.“ So drückt es Teerstegen in seinem Lied aus. Durch das Gebet der Ruhe lässt sich die Seele von der reinen Gottesliebe erfüllen.
Am Gründonnerstag 1724 erlebte er ein mystisch geprägtes Bekehrungserlebnis und verschrieb sich mit seinem eigenen Blut an Jesus Christus. Es war für Teerstegen etwas sehr Tiefgehendes. Von da an begann die zweite Phase seines Lebens, seine öffentliche Wirksamkeit – allerdings gegen große Widerstände der Amtskirche. Teerstegen hielt Vorträge vor Erweckten, er veröffentliche Bücher und führte eine weite seelsorgerliche Korrespondenz. Wie schon gesagt, gehörte Graf Lutz seit 1737 auch dazu. Hunderte von Menschen fanden sich zu seinen Predigten in und vor seinem Haus ein. Ein Freundeskries sorgte durch Spenden für sein Auskommen. Von der Staatskirche wandte er sich aber nicht ab, trotz erlebter kirchlicher Widerstände und trotz der Versuche seitens der Herrnhuter Brüdergemeine, ihn für sich zu gewinnen. Teerstegen wurde auch zum Heilpraktiker und gab selbsterprobte Hausmittel weiter. Seine Seelsorge schloss die körperliche Gesundheit mit ein. Teerstegen blieb unverheiratet, was der strengen Sexualmoral von radikalen Pietisten Vorschub leistete. Im Frühjahr 1769 erkrankte er an Wassersucht und starb am 3. April 1769, gut drei Jahre vor dem Grafen Lutz. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Du armer unansehnlicher Lazarus! Und doch schämen sich die heiligen Engel nicht, dich aufzupacken.“
Zum Verhältnis von Graf Lutz und Teerstegen
Im Casteller Archiv gibt es einen Aktenordner mit Briefen von Persönlichkeiten, mit denen Graf Lutz in Verbindung stand. Darin findet sich die Kopie eines Briefes, den Teerstegen 10 Tage vor seinem Tod an Graf Lutz geschrieben hat. Es ist nur eine Seite.
Liebster Herzensbruder.
Ich muss dich doch eben meine Hand und Herze sehen lassen und mit beiden brüderlich grüßen, in dem Namen Jesu! Dass ich etliche Wochen vieles zu leiden, zu opfern, zu vergessen, anzubeten gehabt und noch habe, das ist Dir zum Teil bekannt. Gelobet und geliebet sei der Herr, der bis hierzu geholfen. Er wird’s ferner wohl machen. Ich stehe auf der Hut und erwarte, was Er ferner befehlen werde. Der zweite und vor 8 Tagen dritte Anfall waren zwar nicht so heftig als der erste, doch bleibt mehr Schwachheit nach. Habs doch mit Gott leidlich, bin doch in 8 Tagen nicht aus den Kleidern und in 2, 3 mal 24 Stunden nicht vom Sitzen auf dem Stuhl gewesen. Die so sehr viele Besuche (obgleich nur 1/4 oder 1/8 St(unde) kann geben) afficieren (=reizen) sehr, da (ich) ohne Verschlimmerung die attention (=Aufmerksamkeit) nicht auf was Äußeres wenden darf. Der eine hat was zu danken, der andere was abzubitten, der Dritte zu fragen, zu weinen. Sollte mich Gott durch diesen Weg wollen zu sich holen, dann scheint es einmal nicht zu eilen. Drum übereile Dich auch nicht mit hierhin kommen, da ich jetzt so wenig imstande (bin) und du selbst schwach bist. Unter uns ist, Gott lob, nichts als Liebe, lebend, sterbend und in Ewigkeit. In derselben umfasse Dich zärtlich
GTSt (Gerhard Teerstegen) M(ühlheim,) den 23. März 1769
Man spürt diesem Brief eine innige, liebevolle Beziehung zwischen Teerstegen und dem Grafen Lutz ab.
Der reformierte Mystiker Teerstegen als Mann der Ökumene
Teerstegen hat die Mystik im Protestantismus wieder zur Geltung gebracht. Ihm war die Glaubenserfahrung wichtig, die persönliche Hinwendung zu Gott im Schweigen, das Einswerden mit dem Seelenbräutigam Christus. So heißt es in seinem Lied: „Herr, komm in mir wohnen“, „Ich in dir, du in mir“. Dieses Einswerden mit Gott bzw. mit Christus geschieht für Teerstegen als Einigung mit dem Willen Gottes.
Der Wille Gottes und Christi ist für uns im Evangelium dieses Sonntags hörbar geworden: „Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst. Dem anderen ein Nächster werden, ein Bruder, eine Schwester und in ihm Christus dienen. So versuchte Teerstegen seinen Glauben im Alltag zu leben. Dabei vermied er jede Konfessionspolemik. Ein Streben nach mystischer Frömmigkeit lässt keine Zeit zur Kritik an den traditionellen Konfessionen. So trug Teerstegen mit dazu bei, den kirchlichen und den antikirchlichen Pietismus miteinander zu versöhnen. Wahre Christen gibt es für ihn in allen Konfessionen. Hier lag Teerstegen auf einer Linie mit Zinzendorf. Wenn wir sein Lied „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165) singen, dann weiß ich mich dabei seit geraumer Zeit nicht nur mit Teerstegen, sondern auch mit dem Grafen Lutz verbunden.
Drei weitere Zeugnisse davon, dass Graf Lutz eng mit dem Freundeskreises um Teerstegen verbunden war
1.
Brief von Pfarrer Hencke aus Duisburg an Graf Lutz 1760
Graf Lutz war seit seinem 30. Lebensjahr (1737) mit dem Freundeskreis von Gerhard Teerstegen eng verbunden. Das spürt man aus Zitaten eines Briefes, den Pfarrer Hencke aus Duisburg 1760 an Graf Lutz in Rehweiler schrieb:
"Eure Hochgräfliche Gnädigliche werteste Zuschrift, die auch den lieben Brüdern Gerhard Teerstegen, dem Caspari und Joh. Schmid aus Solingen vorgelesen, hat uns im Glauben gestärkt, da wir aus derselben vernommen, daß in sonst recht schweren Proben der Herr Ihnen beigestanden. Gelobet sei sein Name ewiglich. Er, der über alle Fürstentümer und Mächte erhabene Heiland Jesus Christus, versiegle nur in Gnade in unseren Herzen sein Wort: „Siehe ich bin mit euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ So haben wir die beste Sauve guarde (= den besten Schutz) und können den Raub unserer Güter erdulden ohne aus unserer eigenen Weste herauszufallen, (2. Petr. 3,17 Ihr aber, meine Lieben, weil ihr das im Voraus wisst, so hütet euch, dass ihr nicht durch den Irrtum dieser ruchlosen Leute mitgerissen werdet und euren festen Halt verliert.), wenn wir mit den gläubigen Hebräern erkannt, dass wir in den Himmeln eine bessere und bleibende Habe für uns selbst haben (Hebr. 10) und durch seine Kraft im Glauben bewahrt werden zur Seligkeit. Ihm es in Demut dabei anheimstellen wie ers gut finden möchte zu unserer Vollendung entweder uns nur zu worfeln, dass die Spreu vom Korn durch die Winde weggeweht werden oder dass wir in der Walckmühle gestampft, oder gar im Schmelztiegel durch Feuer geläutert werden müssen (Dan. 12, 10 … Viele werden gereinigt, geläutert und geprüft werden, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; alle Gottlosen werden's nicht verstehen, aber die Verständigen werden's verstehen.) Sind wir nur in seiner Hand, sind wir nur sein ererbtes Gut, erworben durch sein teures Blut, war das des ewigen Vaters Rat, als er uns seinem Sohn geschenkt hat, so wird uns niemand aus seiner Hand reißen, solls auch durch Feueröfen gehen, wie den drei Männern dort geschehen. Der Herr wird uns vertreten, dass unser Glaube bei allen Proben nicht aufhöre. Sonst möchte einem jetzt in der großen Verwirrung und Verführung, die täglich gräulicher und gefährlicher wird, angst und bange werden. Wir haben in unserer Stadt ein Hartes gelitten, wie der liebe Bruder Fricker mündlich wird erzählen können. Unsere Bürger und Einwohner sind recht tyrannisiert von den Fischerischen, deren Indiskretion der arme übergeben war.
Mich und mein Haus hat der Herr aus Gnade geschützt, ohne dass einem Menschen dafür ein gut Wort bräuchte zu geben. Gelobet sei sein Name.
Ich krieg auch zuweilen noch aus christlichem Herzen Mitleid ohne Bettelei einen Zufluss, den Armen hier und dort zu helfen (?soulayiren?).
Das schädliche, ja schändliche Buch le Philosophe Sans Souci hat mir mehr Kummer gemacht als aller Krieg, ob ich gleich weiß, dass der Chretien (=christliche) Sanssouci dadurch sich nicht wird lassen irre machen im Glauben auf den lebendigen Gott…
Ich grüße nebst oberwähnten Brüdern Eure Exzellenz ehrerbietig und herzlich auch dessen teuerste Frau Gemahlin mit welcher die friedsame Frucht der Gerechtigkeit durch den Segen des Herrn erwarte aus der Übung durch überstandenen Trübsalen.
Gelobet sei der der Herr täglich. Er legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch – wohl uns des feinen Herrn. Er gebiete in Gnaden seinen Segen über dero Haus und lasse Ihnen leuchten das Licht seines Antlitzes. Ich empfehle mich deroselben beharrlichen Gewogenheit und Andenken vor dem Herrn und bin
Hochgeborener Graf, gnädiger Herr, Eure Hochgräfl. Exzellenz
verpflichteter Diener
Johannes Christoph Hencke, Duisburg den 3. Juli 1760"
2.
Brief von Jacob Engelbert Teschemacher an Pfarrer Hencke am 20.12.1769
Der Elberfelder Orgelbauer Jacob Engelbert Teschemacher hat versucht, die mystische Frömmigkeit von Teerstegen beim Bau seiner Orgeln aufzunehmen. Er baute gern Register mit einem warmen, ruhigen Wohlklang ein wie Streicher Violine 8‘, eine Traversflöte 4‘ oder auch die Schwebung Unda Maris 8‘.
Dieser Orgelbauer schrieb am 20. Dez. 1769 (ein dreiviertel Jahr nach dem Tod von Teerstegen) aus Elberfeld an Pfarrer Hencke in Duisburg:
"In der Gnade Jesu
Herzlich geliebter Bruder!
Der liebe Bruder J. E. Evertsen hat mir nebst deinem herzlichen Gruß den Brief von dem Herrn Grafen von Castell mitgeteilt. Ich konnte es nicht unterlassen, dir lieber Bruder hiermit zu bezeugen, wie so herzlich und angenehm mir derselbe ist gewesen, zumahlen da ich nun lange nichts von ihm gehört hatte. Ich fühle, dass dadurch die alte Liebe gegen ihn nicht allein wieder erwachet, sondern auch durch neue Liebe ist vermehrt worden. Absonderlich hat mich seine niedrige und tiefe Bass-Stimme sehr erquicket, solche ist doch das Fundament in der Musik, fehlet diese, so ist an einem Konzert nichts Pompöses noch Angenehmes. Man nehme aus einer Orgel die tiefe Fundament-Stimme und höre, man wird alsdann wenig Vergnügen mehr daran haben. Ja, in den tiefen Bassstimmen so in der Orgel sehr große Pfeifen sind, befindet sich die Proportion und Naturmaß zu allen hohen Stimmen bis zum allerhöchsten Ton. Ich erblicke darinnen ein großes Geheimnis so Gott in die Natur gelegt hat. O wie herrlich concordiret (zusammenstimmen) solches im Reich der Gnaden, da der liebe Gott durch seine unendliche große Weisheit und Güte seine armen Kinder zu einer so herrlichen Musik zubereitet und sie durch so manche Wege der Demütigung, durch so manche Proben und Versuchungen führet, wodurch sie zu so vielen Erfahrungen ihres großen Elends und Tiefen Nichts gelangen. Alsdann erst können sie ihre Stimme aus der Tiefe bis zum höchsten Ton erheben, zum herrlichen und angenehmen Lobe Gottes, unseres Heilandes. Da dem Blute des Lammes alle Ehre, Lob und Dank, Kraft und Macht gebracht wird.
Mein lieber Bruder, ich merke es, der liebe Gott hat auch unsern lieben Bruder Castell durch solche tiefen Wege geführt. Er (Graf Lutz) hat auch an mir einen armen und geringen Mitbruder.
O! Wenn wir hier in dieser Zeit noch einst in Liebe möchten zusammenkommen, was würde man sich einander erzählen können. Doch dieses wird wohl bis auf die Ewigkeit verspart bleiben. Vor einigen Jahren erzählte mir der Seel. Bruder Grohe, dass er auf der Reise nach Hürth (?) den Herrn Grafen von Castell hätte angetroffen, der dem Rhein mit heraufgefahren wäre. Hätte ich es damals gewusst, dass er zu Neuwied gewesen, ich hätte ihn aus alter Liebe allda besucht. O der Herr halte uns doch fest und mache uns doch getreu bis zum seligen Ziel und Ende, damit wir uns glücklich in der seel. Ewigkeit zum unendlichen Lobe Gottes antreffen mögen! Ich trete auch schon den 19. April in mein 60stes Jahr und lerne meine Tage zählen. O Herr hilf!
Mein lieber Bruder, nun ersuche dich brüderlich doch unsern lieben Bruder Castell von mir ganz herzlich zu grüßen, und empfehle mich in sein liebes Gedenken. Die Schwester Kohl lässet ihn auch herzlich grüßen, melde ihm, dass ihr lieber Mann, der Bruder Pet. Kohl und auch Bruder Caspari vor einigen Jahren schon in die selige Ewigkeit gegangen sind.
Ich grüße dich, mein lieber Bruder, schließlich auch ganz herzlich, wie auch deine liebe Frau und Tochter, und gelegentlich den Bruder Hasenkamp. Das allerliebste Christkindelein wolle euch unendlich segnen! Süßes Gottkind Jesu, mach uns Pilger wie du, schlecht und recht und kleine, fremd, unschuldig, reine, sanft gebeugt im Leiden, bis zum frohen Scheiden. Amen! Ich verbleibe durch Gnade dein verbundener christlicher (?) Mitbruder
Jacob Engelbert Teschemacher"
3.
Brief von J. E. Evertsen an Pfarrer Hencke am 22.12.1769
Mit Teerstegen eng befreundet war auch der Kaufmann Johann Engelbert Evertsen. Evertsen lebte in Barmen. Von dort schrieb er am 22. Dezember 1769 ebenfalls an Pfarrer Hencke in Duisburg und schickte ihm wohl den letzten Brief von Teerstegen an Graf Lutz (siehe oben) mit (das Original oder eine Kopie?). Ich lese den zweiten Satz so, dass Graf Lutz dann doch noch Teerstegen besuchte und sich am 30. März 1769 wieder von ihm verabschiedete, als Evertsen zu Teerstegen kam:
"Liebwerter Bruder Hencke.
Vorstehendes letztes Brieflein unseres seligen Bruders dachte ich, möge Ihnen vielleicht mit zu einer Nachricht an den Herrn Grafen dienen können. Am 27. März kriegte er drauf den 4. Anfall, da ich am 30. hinkam und den geliebten Bruder traf, der eben Abschied genommen. Am 31. kriegte er den 5. Anfall, von welchem Augenblick an die Todesnöte anfingen, da er den Freitagmittag bis Montagmorgen 2 Uhr über die Maßen schwer Leiden ausgestanden, aber alles in der größten Geduld, dass ich ihn nicht habe hören jammern als nur „O Gott, o Jesus! O liebster Jesus", welche Worte mir tief ins Herz gefallen. Die letzten 49 Stunden hat er großer Atemnot halber immer im Stuhl gesessen und die letzten 2 Stunden ganz sanfte geschlafen und im Herren entschlafen. Ich danke Gott, der mich so viel Liebe und Stärkung durch ihn genießen lassen. Ich danke Gott, der mich gewürdigt hat, diese letzten Tage ein Zeuge und Mitgenosse seiner Leiden, aber auch ein Zeuge der Geduld und unverrückten Überlassung an Gott zu mögen sein. Fragte man ihn: „Wie geht’s“? „Ich hab es sehr träglich, ich hab es gut“, wenn ich schon es mit Mitleiden ansah (ansehe?). In der höchsten Not sagte Er doch wohl einmal: „Ich hab es jetzt doch was sauer.“ Alle Bekannten nahmen Samstag und Sonntag Abschied von ihm, der er einem jeden noch ein Wort zusprach wie ihnen Not war und wie es recht zupass kam (käme). Herr Prediger Engels sagte Samstag zu ihm: „Geben Sie mir noch einen Segen?“ Darauf lächelte er noch, hub demnächst seine sterbenden Hände auf und sagte: „Unser großer Hoherpriester Jesus Christus segne Euch mit Friede und Liebe in eurem Herzen, und schenke Ihnen Gnade und Weisheit in Ihrem Amte.“
Finden Sie es für gut, dann können Sie diese kleine Nachricht nebst der Ihrigen und meinen unbekannten herzlichen Gruß dem Herrn Grafen mitsenden. Ihr verbundener Johann Engelbert Evertsen"
Graf Lutz starb am 22. Juni 1772 im Casteller Schloss, wo er auch aufgewachsen war im neuerbauten dreiflügligen Barockschloss.
Als jüngster Grafensohn überlebte er seine Brüder und war die letzten Jahre seines Lebens Alleinregent in der Grafschaft Castell. Da seine Ehe mit Ferdinande Adriane Gräfin zu Stolberg-Wernigerode kinderlos blieb, wurde ein Neffe sein Nachfolger.
Der hat dann viele gräfliche Häuser in Rehweiler privatisiert.
Rehweiler blieb eine evangelische Kirchengemeinde und entwickelte sich nicht zu einer Freikirche wie in Herrnhut. Doch die Spuren und Früchte der Erweckung wirken hier bis heute positiv nach.
Quellen:
Die zitierten Briefe finden sich im Fürstlich Castell'schen Hausarchiv in Castell, Nr. 1 C 9 22 "Korrespondenzen des Grafen Friedrich Ludwig zu Castell /, Rehweiler '/ mit verschiedenen Persönlichkeiten /: Sammelakt :/ 1736 - 1770"
Peter Zimmerling, Evangelische Mystik, 2. Auflage 2015; darin: Gerhard Teerstegen (1697-1769): Piestist und Mystiker
Pfarrer Hans Gernert zur Kirchweih in Rehweiler, 11.9.2022